Montag, 9. April 2018

Immer noch Holzfäller




Clauy Peymann liest Thomas Bernhard im Jungen Theater

Zum Schluss sagte Intendant Nico Dietrich, der Gast sei immer noch ein Gigant des Theaters. Zuvor hatte Claus Peymann eine Stunde fünfzehn lang diese These reichlich unterfüttert. Seine Lesung von Bernhards „Holzfällen“ im Jungen Theater war ein Ausflug in die Zeit, als Theater noch Angriffslust hatte.

Natürlich liest ein Theatermann von der Bühne hinunter. Auf dieser stellt lediglich ein Ohrensessel in roten Samt. Von der Decke hängt ein weißes Tuch. Darauf ist ein Zitat von Voltaire gedruckt und über dem Sessel drapiert liegt ein weiteres Tuch. Wie ein Leichentuch scheint es eine längst vergangen Zeit zu verdecken.

Aus dem Hintergrund taucht Peymann auf. Er betritt die Bühne, auf der vor mehr als 50 Jahren seine Karriere als Regisseur begann. Die Freude ist wohl echt, sowohl beim Gast als auch beim Publikum.

Dessen Altersdurchschnitt liegt deutlich über 50 und einige der Zuhörerinnen und Zuhörer dürften schon mal Gast im JT gewesen sein, als Peymann hier noch inszenierte. Eine Ära besichtigt sich selbst.

Claus Peymann macht nicht viele Worte. Er gibt eine kurze Einleitung zum Werk und erinnert daran, dass er gerade Intendant des Wiener Burgtheaters geworden war, als Thomas Bernhard mit „Holzfällen“ seinen Spott über die österreichische Kulturschickeria ausgoss. Peymann ist also Zeitzeuge des Skandalwerks von 1986.

Gerade saß hier noch der Bernhard, aber
gleich der Peymann. Alle Fotos: Kügler
Das Leichentuch fliegt von der Bühne. Peymann legt mit Schwung den Ohrensessel frei und wirkt dabei wie ein Zauberkünstler. Der erste Überraschung ist gelungen, das Relikt einer vergangenen Zeit kann besichtigt werden und die Lesung beginnt.

Nein, es ist keine Lesung. Peymann ist ein Theatermann und er inszeniert hier ein Ein-Mann-Stück für Literaturfreunde und Kenner und für seine Bewunderer. Er nimmt Platz im Sessel. Kein Tisch trennt ihn von seinem Publikum.

„Holzfällen. Eine Erregung.“ spielt an einem einzigen Abend. Bernhard aus der Ich-Perspektive das ganze Drumherum um eine Abendgesellschaft in der Wiener Kulturschickeria. Aus einem Ohrensessel heraus beobachtet er die Ankunft der anderen Gäste, erklärt die vielfältige Verstrickungen der Beteiligten und ärgert über sich selbst, dass er die Einladung überhaupt angenommen hat.

Es ist die Position des Erhabenen, des Überlegenen, aus der er den Vorgang des Abends und die Selbstdarstellung der Gäste schildert. Pervers und erbärmlich ist eine Wortkombination, die immer wieder auftaucht. Dabei überschreitet Bernhard durchaus die Grenzen zur Diffamierung und so konnte das reale Ehepaar Lampersberger, das unverkennbar mit dem literarischen Ehepaar Auersberger gemeint ist, zumindest ein zeitweiliges Verbot des Romans bewirken.

Aus dem Ohrensessel heraus trägt der Gast im JT vor. Er trägt vor, er liest nicht. Peymann spielt mit allen Schattierungen des gesprochenen Wortes, Er wird laut und leise und setzt Pausen Verschwörerisch linst er über den Brillenrand ins Auditorium, zu seinen Gästen. Wohlwissend wird an vielen Stellen gekichert, man teilt gewisse Erfahrungen. Publikum und Vortragender sind eine Einheit. Auch wenn man sich 54 Jahre lang nicht gesehen hat. Das zumindest kann Peymann den Anwesenden vermitteln.

Er ist halt ein Zauberer, immer noch. Peymann hat wohl auch die Jahre für sich weggezaubert. Sein Vortrag ist nicht nur variantenreich sondern auch kraftvoll. Jedes Wort ist sauber gesetzt und mit Nachdruck. Da ist nichts zu viel und alles mit Inbrunst.

Auf jeden Fall zieht er die Gäste in den Bann. Die Darbietung des Textes ist bühnenreif, Wenn der Protagonist sich streckt, dann streckt sich auch der Vortragende. Mit sparsamen Gesten untermauert Peymann das gesprochene Wort und manchmal auch das unausgesprochene, das Verschwiegen, das alle aber erahnen.

Es wird auf jeden Fall nicht langweilig trotz der Menge des Textes. Dieser sprudelt nur so aus dem Vortragenden heraus, fast schon ohne Interpunktion. Es fast schon ein stream of consciuosness im besten Sinne eines Joyce. Damit treffen sich auf der Bühne des JT drei Monumente.

Die Grenze zwischen Darsteller und Dargestelltem ist an diesem Abend aufgehoben. Auch ein Peymann ist Teil dieser Kulturschickeria, die Thomas Bernhard hier so unerbittlich auf‘s Korn genommen hat. Aber das weiß jeder im Publikum, so wie jeder Anwesende ahnt, dass auch sie oder er ein Quentchen Auersberger in sich trägt. Aber das kann man ja schnell wegkichern. Peymann jedenfalls lässt auch immer ein Hauch Selbstironie durchblitzen. Seine Position im Ohrensessel hochoben auf der Bühne ähnelt der des Ehrwürdigen auf dem Gipfel aus einer bekannten Comic-Reihe.

Plötzlich ist er da, der Moment, in dem sich Fiktion und Realität treffen. Der Text spricht von dem neuen Intendanten am Burgtheater, vom deutschen Theatergenie. Auf der Bühne quittiert Peymann sein Auftreten auf dem Papier mit einem schnelle Griff in die Tasche. Schwupps, geht ein Konfetti-Regen auf die ersten drei Reihen nieder. Zweiter Überraschungseffekt geglückt. Einfach aber eindrucksvoll.

Unbeeindruckt und mit einem bübische Lächeln fährt er fort mit der Philipika. Doch als Peymann den Burgschauspieler über das einfache Leben und die wahren Herausforderungen, nämlich dem Holzfällen fabulieren lässt, gibt es für das Publikum noch einmal einen Augenblick des Staunens. Der Mann hat gerade seinen 80. Geburtstag hinter sich gebracht und wütet immer noch und das sogar unterhaltsam. Da bekommt man eine Ahnung davon, welcher Wind der Erneuerung damals durch die deutschsprachige Theaterlandschaft gefegt sein muss. Peymann ließt nicht über das Holzfällen, er ist immer noch der Holzfäller.
Der Ehrwürdige vom Gipfel ist erleuchtet.
Alle Fotos: Kügler 

Je länger der Text dauert, desto fragwürdiger wird die Stellung des Ich-Erzählers. Das kann Peymann wunderbar herausarbeiten. Deswegen klingt die Erkenntnis, dass man ja selbst ein Teil dieser Kulturschickeria sei und ohne sie nicht gönne, nicht nur zwangsläufig sondern auch überzeugend.

Darin liegt wahrscheinlich auch der Reiz des Abends. Es geht nicht um das Bestaunen eines Monumentes sondern um die gemeinsame Reise in eine Zeit, als man sich noch die Meinung sagen durfte, als man noch nicht jeden und alles gut finden musste. Selbsterkenntnis und Selbstironie gehören dabei zum Reiseproviant. Auf jeden Fall schmeckt es allen. Der Applaus ist dann o ausgiebig, dass der Vortragende gar nicht so recht weiß, was er mit so viel Lob soll.







Material #1: Claus Peymann – Die Biografie
Material #2: Das Junge Theater – Der Spielplan
Material #3: Holzfällen. Eine Erregung. – Das Buch



Freitag, 6. April 2018

Berühmte letzte Worte: Ich liebe dich

Clyde und Bonnie in einer ergreifenden Inszenierung am Städtebundtheater

Rabiat, empathisch, schonungslos, berührend, geradezu ergreifend. Die Liste der Adjektive ließe sich noch fortsetzen, aber auf jeden Fall ist Janek Liebetruth mit "Clyde und Bonnie" eine Inszenierung gelungen, die niemanden kalt lässt.

Ein junger Mann steht am Bühnenrand und starrt ins Publikum. Irgendwo im Dunkel plätschert elektronische Musik und auf den Hintergrund zeigt eine Videoprojektion szenische Schnipsel eines Paares. Musik und Video laufen in einer Schleife. Der Loop-Effekt bestimmt den Einstieg.  Der Mann hebt den Arm und zieht an seiner Zigarette. Er atmet aus, lässt den Arm sinken und starrt wieder ins Publikum.  Mit dieser einfachen Geste erzeugt Liebetruth Aufmerksamkeit.  Der Mann raucht, der kann doch nicht normal sein.

Zwei werden zu einem: Bonnie und Clyde.
Alle Fotos: Ray Behringer
Es ist großes Schauspiel mit wenigen Mitteln. Jonte Volkmann wirkt wie in Stein gemeißelt, trotzdem merkt man ihm die Anspannung an, der Körper ist steif, die Augen gehen hin und her und offensichtlich rattert es unaufhörlich in seinen Kopf. Jeder kennt solche Situationen, aber nicht in dieser Extremlage. Das vermittelt Volkmann schon zum Start.

Das Ende ist der Anfang. Der letzte Banküberfall von Bonnie und Clyde ist daneben gegangen. Sie liegt tot in einer Blutlache, er ist entkommen. Damit hat Clyde das Versprechen gebrochen, sich nie wieder zu trennen. Von diesem  Punkt aus erlebt das Publikum die Schussfahrt aus der Retrospektive.

In dem Stück von Holger Schober geht es nicht um die historischen Figuren Bonnie Parker und Clyde Barrow. Hier treffen nicht zwei sozial Deklassierte aufeinander, die Rache am System nehmen. Es sind zwei emotional Ausgeblutete, die in einer tödlichen Umarmung zueinander finden, die sich wie zwei Ertrinkende aneinanderklammern und dann doch ganz allein sterben.

Sie ist eine Tochter aus gutbürgerlichem Haus, seit Generationen Apotheker. Er kommt eher aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sie heißt wirklich Bonnie, sein Spitzname ist Clyde. Wie er wirklich heißt, das tut hier nichts zur Sache. Clyde ist der Stellvertreter einer ganzen Generation junger Menschen.

Nach der Scheidung der Eltern ist der Kontakt zum Vater abgebrochen. Der Hund ist das einzige Wesen, zum Clyde eine Bindung aufbauen kann, doch  der Vierbeiner verschwindet spurlos. Dann stirbt die Mutter bei einem Autounfall. Das ist mehr als ein Neunjähriger aushalten kann. Die Rettungsversuche seiner Großeltern sind nett gemeint, aber hilflos.

Immer wieder:Berühmte letzte Worte und ein Kuss.
Alle Fotos: Ray Behringer
Bonnie wächst in gesicherten Verhältnissen auf. Doch was ihr fehlt, das ist die Emotionalität. Es schockiert schon, wenn sie erzählt, dass sie auf den Beerdigungen ihrer Großeltern zu keinerlei Gefühlen fähig war.  Das Licht geht aus und die Videoprojektion schaltet um und erzählt, wie ausgerechte diese Beiden sich in einer Bar treffen. Aus einer Zufallsbekanntschaft wird eine pathologische Gemeinschaft, das ist die Analogie zu Clyde Barrow und Bonnie Parker.

In dieser Inszenierung sind Schauspiel und Video Partner auf Augenhöhe. Es ist ein Miteinander. Die bewegten Bilder ergänzen und bestätigen und kontrastieren gelegentlich das gesprochene Wort. Zu der langen Reihe der starken Szenen gehört auch der Moment, als Bonnie in ihrer Verzweifelung in die Bilder hineingreift.

 Janek Liebetruth ist nicht der Versuchung erlegen, hier einem Road Movie der Sorte Atemlos vorzulegen. Seine Inszenierung ist eher überraschend bedächtig und der Verzicht auf hektische Bewegungen geprägt. Liebetruth weiß, dass man Dramatik nicht durch Gebrüll erzeugt. Manchmal sind es die kühlen kalten Worte, die fesseln. Der Kontrast von gesprochenen Wort und seinem Kopfkino und der ruhigen Darstellung, das macht sie so beeindruckend. Alles bleibt hängen.

Mit kühler Miene zeichnet Jonte Volkmann den Weg vor. Der nächste Schritt folgt konsequent aus dem vorhergehenden. Da ist Swantje Fischer eher für emotionale Achterbahn zuständig und das erledigt sich sehr überzeugend. Aber die Trennlinie sind nicht immer deutlich und damit ist die Theorie, dass Clyde und Bonnie zu einem Ganzen verschmolzen sind, durchaus bestätigt. Aus zwei kann eins werden und dies bis zur letzten Konsequenz. Das machen Fischer und Volkmann mehr als deutlich.

Aber Clyde und Bonnie sind alles andere als die "Natural Born Killers" eines Oliver Stone. "Clyde und Bonnie" ist keine Zurschaustellung der Gewalt, sondern die Folge der emotionalen Verwahrlosung. Damit ist diese Inszenierung keine Crime Story sondern die Geschichte eine wahnsinnigen Liebe, einer bedingungslosen Liebe mit einer erschreckenden Konsequenz. Liebe macht alles möglich, selbst dies.

Bonnie ist tot und kehrt als Engel wieder.
Alle Fotos: Ray Behringer
Genau betrachtet sind die beiden die Karikatur eines Gangster-Pärchens: kein Fluchtauto und die Pistolen sind auch nur Schreckschusswaffen.  Vielleicht findet die ganze Tragödie ja auch nur im Kopf statt?

Die drei Erzählstränge "Ganz früher", "Neulich" und "Eben gerade" werden in einzelne Stationen aufgelöst, aber alles findet in diesem einzigen Moment statt. Bonnie und Clyde sitzen in der Bank fest, draußen wartet die Übermacht der Polizei. Was nun?

Die dramatische Loop-Maschine geht diese Szene ein halbes Dutzend Mal durch, immer in anderen Variationen, aber immer in der geklauten Sprache der Gangsterfilme. Es werden Lösungsmöglichkeiten durchgespielt, die keine echten Alternativen sind. Das macht die Tragik des Moments um so deutlicher. Denn in der Logik von Bonnie und Clyde gibt es nur den einen Weg.

Deswegen ist der Dialog "Berühmte letzte Worte?", "Ich liebe dich" und der anschließende Kuss  die zentrale Szene. Egal, wie oft er gesprochen wird, man weiß, dass es immer der letzte Kuss sein wird. Dazu ist die Sehnsucht nach der gemeinsamen Hochzeit der denkbar stärkste Kontrast.

Abwesende Eltern, überforderte Großeltern, schneller Sex im Auto und der Tod im Kugelhagel. Zwei komplette Leben in siebzig Minuten. Auch dramaturgisch ist die Aufführung eine starke Leistung. Daniel Theuring hat sehr gute Arbeit geleistet: Kein Wort ist zuviel und jeder Satz sitzt.

Durchbrochen wird die Erzählreigen zum traurigen Schluss. Bonnie ist tot und es gibt keine Möglichkeiten mehr, die durchgespielt werden können. Clyde verzweifelt an seinem Überleben. Doch dann kehrt Swantje Fischer als Todesengel zurück und nimmt Clyde mit auf die andere Seite. Mit Gegenlicht und Nebel sicherlich ein wenig konventionell dargestellt, aber eben verständlich und wirksam und bestimmt die eindrücklichste Szene mit hohem Kloß-im-Hals-Faktor.

Im Licht doch wieder vereint.
Alle Fotos: Ray Behringer
Wichtiger Faktor der durchweg gelungenen Inszenierung ist das Bühnenbild von Hannes Hartmann. Einfach, aber eindrucksvoll und die richtige Plattform für ein eindringliches Spiel. Ein rechteckiges Podest, das den Zuschauer schon sehr nah kommt. Im Hintergrund eine Wand aus Multiplex-Platten, davor ein Vorhang aus Schnüren. Das sind die Videoprojektionen immer doppeldeutig und unscharf.  Darüber das Oberlicht aus einem Altbau.

Manchmal diente der Vorhang auch als Versteck. Als Bonnie erschossen wird, reißt Swantje Fischer diesen Vorhang herunter. Einfach Symbolik, aber eben stark.

Ist dies nun die Insel der emotional Gestrandeten oder das Transporterdeck von Raumschiff Enterprise? Egal, auf jeden Fall zeigt diese Anordnung die Vereinsamung von Clyde und Bonnie. Erst als Todesengel dar Fischer diese Spielfläche zerlassen. Die Insel der Unglückseligen existiert nicht mehr.

Rabiat und roh, aber auch voller Empathie und Emotionen. Mit "Clyde und Bonnie" ist Janek Liebetruth eine Inszenierung gelungen, der man noch ein langes Leben wünscht.






Material #1: Bonnie & Clyde - Das Original
Material #2: Der Regisseur Janek Liebetruth
Material #3: Der Autor Holger Schober
Material #3: Selbes Thema - andere Lösung - die Oper



Montag, 2. April 2018

Händel trifft auf Wort- und Vertikalakrobatik

Theaterjugendclub begeistert mit Premiere von Hip-Hop Händel

Händels Opern haben in den letzten 313 Jahren viele Deformationen und Transformationen überstanden. Was der Theaterjugendclub am Theater Nordhausen aber aus "Alcina" gemacht, das ist mehr als eine hippe Bearbeitung und geht weit über den Tag hinaus. Am Samstag war Premiere von "HipHopHändel" im Großen Haus und diese zeigte, dass einem um die Zukunft von Händel nicht bange sein muss.

Es ist der Stoff für eine Daily Soap und der Theaterjugendclub behält die Story bei. Alcina lockt den Ritter Giero auf ihre Insel, doch dessen Frau Bante hätte den Gatten gern zurück. Sie verkleidet sich als Mann und zieht mit ihre Amazonen und den Kriegern ihres Mannes auf die Insel. Dort treffen sie auf Morgana, die Schwester der Alcina, die sich in Bante verliebt und auf Oronte. Der ist mit Morgana verlobt und chronisch eifersüchtig.

Mad Max erliegt der barocken Zauberin. 
Alle Fotos: Lennart Hattenhauer
Oronte hetzt den liebesblinden Giero auf den vermeintlichen Nebenbuhler. Giero ist so verblendet, dass er seine Frau gar nicht erkennt. Die macht sich auf die Suche nach ihrer Widersacherin, um in einem Showdown die Sache von Frau zu Frau zu klären. Doch Alcina geht der Auseinandersetzung aus dem Weg weil sie ihre Zauberkraft verloren hat. Dann ist da noch der mehr als unglückselige Zauberer Atlante, Bruder von Alcina und Morgana.

Es ist die Frische und Lebensnähe, die diese Inszenierung auszeichnet. Nichts wirkt aufgesetzt und berufsjugendlich. Alcina nutzt das Smartphone, um Giero in die Liebesfalle zu locken. Zwischendurch wird gerappt, gebreakdanct und gechillt und die Wörter "Fuck" und "Scheiße" fallen auch einige Mal. Aber immer stimmig.

Hip-Hop Händel ist eine gelungene Mischung aus den Versatzstück unterschiedlicher Kulturen. Hip-Hop und Grunge passen hier zum Barock und zwar ohne Brüche und Übergänge. Zudem ist eine schlüssige Mixtur der unterschiedlichen Stilmittel und Techniken. Hier treffen Kämpfer in Mad Max-Optik auf barocken Glanz und es stört niemanden.

Eine Videoprojektion zeigt den Auruf der Bante an die Amazonen und Krieger. Dem folgt eine Jagd durch die Treppenhäuser des Theater, die vor ein schwarzen Tür endet Die Tür wird geöffnet. Cut. Umschnitt zurück in Live-Theater. Krieger und Amazonen stolpern auf die Bühne und stehen vor dem eisernen Vorhang. Ein großartige Idee und eine großartige Umsetzung wie hier die die Medien vernetzt werden.

Ein Geck, seine Geliebte und der vermeintliche
Nebenbuhler.    Foto: L. Hattenhauer
Der Vorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf ein einfaches aber traumhaftes Bühnenbild. Anja Schulz-Hentrich ist etwas Großartiges gelungen: Reduziert aber fantasievoll. Auf einer Empore im Bühnenhaus thront im Gegenlicht das Sinfonieorchester der Kreismusikschule und schwebt wie Putten über der Szenerie. Auch der zweite und der dritte Akt sind ähnlich ausgestattet: Die wenige Ausstattungsstücke lassen genug Raum für die Ergänzungen im eigenen Kopf.

Auch die Kostümsprache ist eindeutig und verständlich. Krieger und Amazonen in Lack und Leder in Mad-Max-Optik. Die Zauberer und deren Anhang in Weiß und mit viel Rüschen.

Die Einschränkungen eines Jugend- und Amateurtheaters werden an einigen Stellen deutlich und natürlich hat das Sinfonieorchester nicht das Volumen, die Präzision und den Schwung eines Profi-Orchesters. Aber es erfüllt seine Aufgaben sehr gut und ist in den Arien der Alcina ein Partner auf Augenhöhe für Aleksandra Bruchov.

Es gibt durchaus Darstellerinnen und Darsteller, die an diesem Abend über sich hinauswachsen und beachtliche Akzente setzen. Dazu gehören Sarah-Lucy Ertelt in der Rolle der Morgana. Sie versteht es, der Verzweiflung der ewigen kleinen Schwester Ausdruck und Stimme zu verleihen.

Aber auch Dennis Kraml zählt dazu. Sein Orante ist angelegt wie ein überkandidelter Geck aus den Operetten oder Revuefilmen der 30-er Jahre. Reife Leistung.

Doch die schauspielerischen Höhepunkte in der Premiere setzt Max Iser. Er versteht es, den leicht trotteligen Atlante eine komplette und glaubwürdige Figur zu verleihen. Auch die Variationsmöglichkeiten seiner Stimme und sein Timing ist große Klasse.

Er ist eindeutig der Dude: Max Iser als Atlante.
Alle Fotos: L. Hattenhauer
Die eindrucksvollste Szene bleibt aber der Profin vorbehalten: Alcinas Abgang. Dabei harmoniert Aleksandra Bruchov wunderbar mit ihren Alter Egos, die nicht von dieser Welt wollen. Bei allem Hip-Hop ist hier mal Stille angesagt.

Die Mischung ist so gelungen, dass selbst Elemente wie die Vertikalakrobatik der Zappelinis an Tuch und am Seil zwar deutlich von der Vorlage abweichen. Aber weil sie dies als die Kinder der Alcina turne, passt es dann doch. Zum ganz eigenen Zauber dieses Stück trägt die Einlage allemal viel bei.

Aber neben allen optischen Reizen, die diese Inszenierung bietet, liegt ihre Stärke doch in den Inhalten. Also, dass das Libretto einer Barock-Oper auch für eine Soap Opera taugt ist keine neue Erkenntnis. Doch Eva Lankau, Steffi Böttcher und Christian Fuchs zeigen, dass hier die Themen drinstecken, die Jugendliche und Heranwachsende bewegen.

Es geht um die eigene Orientierung in einer Welt, die sich ändert, es geht um Sexualität in vielfältiger Form und es geht um den Zoff in der Familie, personifiziert in der Auseinandersetzung von Morgana und ihrer Schwester Alcina. Damit ist es Werk eben hip und der donnernde Applaus zum Schluss lebt nicht nur vom Verwandten-Bonus.






Material #1: Georg Friedrich Händel
Material #2: Alcina - Die Oper

Theater Nordhausen #1: Der Spielplan
Theater Nordhausen #2: Der Theaterjugendclub
Theater Nordhausen #3: Hip-Hop Händel

Kooperationspartner #1: Die Zappelinis
Kooperationspartner #2: Studio 44




Sonntag, 1. April 2018

Alles bleibt anders

B.B. & The Blues Shacks wieder im Exil

Wieder Gründonnerstag, wieder im Exil und wieder Cloud 6 als Support. Das klingt verdächtig nach "Some procedure as last year". Mitnichten. Auch in diesem Jahr war das Konzert von B.B. & Thes Blues Shacks in Göttingen wieder eine einzigartige Angelegenheit.

Ihren Teil dazu tragen Cloud 6 bei. Kim Shastri und Nico Bauckholt haben ein neue Gefährten. Zum Heimspiel in Göttingen präsentieren sie zum ersten Mal das neue Line up. Das verschiebt die Akzente ein Stück weiter hin zu Kim Shastri. Der Sänger, Keyboarder und Mann an der Harp bestreitet nun 60% der Soli.

Aber damit wird auch eine Entwicklung deutlich. Klangen Cloud 6 ein Jahr zuvor an selber Stelle noch rau und ungeschliffen, präsentieren sie sich in diesem Jahr reifer und runder und abwechslungsreicher. Der Anteil der Balladen ist deutlich gestiegen und es ist vor allem der Slow Blues "Worst Night of All", der das Publikum mitnimmt.

Der Mann an den Tasten ist geblieben,aber der an den
Saiten und der an den Drums, die sind neu.

Alles Fotos: Th. Kügler
Aber keine Angst. Es bleibt noch reichlich Tempo im Programm des jungen Quartetts. Natürlich gibt es genug Gelegenheit, sich gemeinsam im Rhythmus zu bewegen. Zumal auch die musikalische Spannweite deutlich größer geworden ist.

Ihr Blues kippt nicht ehr so weit in Richtung Hilly Billy. Zwischendurch wird auch ordentlich geswingt. Eine Konstante zum Vorjahr gibt es doch: So muss einem nicht bang sein um die Zukunft dieser Musiksparte.

Damit darf man gespannt sein auf das neue Album. Natürlich ist die Release-Party beim Heimspiel im Exil.  Das freut den Fan-Club, der auch in diesem Jahr dabei war und immer noch so jung wie 2017.

Das eine ist die Zukunft. Aber B.B. & The Blues Shacks können für sich in Anspruch nehmen, den State of Art zu definieren. Auch wenn das mit den Vergleich und den Superlativen immer so'ne Sache ist. Aber dieses Quintett ist allemal die stärkste die Blues-Band Europas. Das stellen sie an diesem Abend im Exil wieder unter Beweis.

B.B. & The Blues Shacks bestimmen die Gegenwart weil sie die Grundlagen des Rhythm'n'Blues  zu schätzen wissen. Wie war doch gleich noch der Spruch mit der Tradition und dem Feuer? Egal, Ein Konzert mit den Blues Shacks ist durchweg ein Archaismus, aber eben authentisch und deswege so belebend.

Er hat den Blues, der andere wohl auch.
Foto: Kügler
Ein Konzert mit den Blues Shacks ist der Kontrapunkt zu den gestylten Shows der Gegenwart Das ist zu einen die Location. Ein kleiner Club rappelvoll, die Temperaturen jenseits der 30°C, die Luftfeuchtigkeit mehr als 90% und das Publikum gleich an der Bühne. Das ist das Biotop, in dem sich die Brüder Arlt seit bald schon 30 Jahren herumtreiben und in dem sie prächtig gedeihen.

Das wird nicht lange taktiert. Vom ersten Akkord an geht es straight forward und das Michael Arlt eine Rampensau par excellence ist, das hat sich auch schon herumgesprochen. Auf jeden Fall sind er und das Publikum von Anfang an eine Einheit. Spätestens beim "Come along with me", so etwas wie die inoffizielle Blues Shacks-Hymne hält es niemanden mehr auf seinem Platz. Der ganze Saal wippt und swingt und schnippt oder macht irgendwas, was in den treibenden Rhythmus passt.

Some Procedure as last year? Im Großen und Ganzen ist immer dasselbe Schema: Ein bis zwei Strophen, dann ein Gitarren-Solo, dann Keyboard-Solo, noch 'ne Strophe, dann ein Harp-Solo und noch eine Strophe und dann ist der Song vorbei. Das Publikum begeistert und freut sich darauf, dass sich das gleich beim nächsten Song wiederholen wird.

Auch wenn die Determinanten dieselben scheinen wie im Vorjahr, ist doch alles anders.  Das Programm entwickelt sich hin zu immer mehr eigenen Sachen. Um die Floskel zu bringen: Im Gepäck haben B.B. & The Blues Shacks ihr neues Album "Relevation". Darauf befinden sich nur noch eigene Songs. Vorbei sind also die Zeiten, als man den Urvätern huldigte.

Beim letzten Auftritt in Göttingen  wurde Fabian Fritz noch als der Neue an den Tasten beäugt. In diesem Jahr weiß, das Publikum was es an ihm hat.

Die schnellsten Finger östlich des Peco.
Er schafft es immer stärker, eigene Akzente zu setzen. Damit erweitert er nicht nur das Spektrum. Die Blues Shacks-Bipolarität von Arlt & Arlt hat er damit zur Tripolarität erweitert. Nur eine Frage ist noch ungeklärt: Wo holt der Mann so viele Töne her? Wie schafft er es, so viele Noten in einen Takt zu packen?

Das Andreas Arlt mittlerweile einer der besten Blues-Gitarristen auf diesem Planeten ist, das hat sich auch in Südniedersachsen herumgesprochen. Er beherrscht jede Spielart des Bum-Bum Bum-Bum und an diesem Abend klingt seine Gitarre fast lyrisch. Auf jeden Fall ist sein Solo zu "Take Care for You" wohl das leiseste Solo, das in der Geschichte des Blues je gespielt wurde. Zumindest sind 110% der Anwesenden der festen Überzeugung davon und deswegen begeistert. Dass Andreas Arlt auch eine Portion Ironie in sein Spiel legt, mit den Erwartungen und Attitüden jongliert,  das verleiht den Abend eine gewisse Leichtigkeit.

Michael Arlt ist wohl der Mann mit der größten Harp-Sammlung östlich von Chicago. Das ist der technische Grund, dafür, dass jedes seiner Soli irgendwie anders klingt. Aber auch für ihn gilt, dass diese Soli gar nicht der Selbstdarstellung dienen sondern eine erweiterte Form der Kommunikation mit dem Publikum sind. Deswegen ist kann kein Konzert von B.B. & The Blues Shacks so wie ein vorheriger Gig, auch nicht, wenn es im nächsten Jahr wieder Gründonnerstag wird, Cloud 6 den Support machen und das Exil rappelvoll und bullewarme sein sollte.






B.B. & The Blues Shacks #1: Die Website
B.B. & The Blues Shacks #3: Der wikipedia-Eintrag
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B.B. & The Blues Shacks #4: Juni-Gig in Northeim

B.B. & The Blues Shacks #5: Der Gründonnerstag-2017-Gig in Exil


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Exil #1: Die Website
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