Dienstag, 27. Februar 2018

Ein Spiel zwischen Theater und Therapie


DOMinos mit Premiere von "Dass nach dem Tag die Nacht kommt"

Was ist Erziehung? Darum dreht sich das Stück "Dass nach dem Tag die Nacht kommt" des britischen Dramatikers Tim Etchells. Am Freitag feierten die DOMinos  mit ihrer Inszenierung voller Tempo und Experimentierfreude Premiere. Es bleibt ein zweischneidiger Eindruck zurück bei diesem Anti-Tschick.

Das Werk  ist eine Mischung aus Brechtschem Lehrstück und Handkes Publikumsbeschimpfung. Auf jeden Fall Sprechtheater der gehobenen Kategorie. Das Publikum ist durch die Ankündigung schon auf jede Menge vorbereitet. Es muss noch mehr verarbeiten.

Mal spricht der Chor zum Publikum (Brecht), mal spricht eine Solistin  zum Publikum (Handke). Kommunikation oder Miteinander der Darstellerinnen gibt es auf jeden Fall nicht. Gibt es dann doch Interaktion, so dreht sie sich meist um Gewalt.

Die Grenzen sind eindeutig und schwarz steht gegen
bunt.       Alle Foto: Kügler
Unterbrochen wird das Sprechtheater durch zwei Musik- und Tanzeinlagen. Das verschafft dem Publikum zwei Atempausen und die Möglichkeit, noch einmal über das gerade Gesagte zu reflektieren.

Dabei ist der Start fast schon lyrisch. Aus drei Zelten pellen sich die zwölf Damen wie Schmetterling aus einem Kokon oder Küken aus dem Ei. Im großen Durcheinander sucht jede einen Sitz und dabei einen Platz im Leben. Zum Schluss werden sie sich wieder in die Zelte verkriechen. Der Kreis schließt sich.

Dazwischen liegen 70 Minuten schwer verdauliche Kost, die aber mit Tempo und vielen Einfällen serviert wird. Videoprojektionen wiederholen und unterstützen das Gesagte. Idee reiht sich an Idee. Die Mädchen probieren aus, was man Theater so machen kann.

Mal ist die Bühne in Blau getaucht, mal in Grün. Überhaupt wird mit kräftigen Farben und mit kräftigen Strich gezeichnet. Bezaubernd wirkt das Sternengefunkel mit den Taschenlampen. die Bilder werden zu eigenen Aussagen

"Ich bin überfordert", das ist die klare Antwort des härtesten aller Kritiker, befragt nach seiner Meinung zu dieser Aufführung. Seit fast fünf Jahren bereist er die Jugendbühne der Region. Nun musste Tammo die Waffen strecken. Das ständige Stakkato überschreitet die Grenze seiner Aufnahmefähigkeit. Erst nach 60 Minuten gibt es ein Innehalten, gibt das retardierende Element Gelegenheit zur Reflexion.

Das ist auch nicht verwunderlich, denn "Dass nach dem Tag die Nacht kommt" ist auch kein Jugendtheater. Es ist ein Stück, dass Jugendliche für Erwachsene spielen. Dabei werden sie eben auch von Erwachsene angeleitet.

Alle haben ihren Platz gefunden.
Es ist nicht ganz klar, wer sich hier an wem abarbeitet. Vielleicht der Autor an seiner Kindheit? Das die Begriff Ordnung und Disziplin und Vaterlandsliebe im Jahr 2017 auch nur eine marginale Rolle in der Erziehung besitzen, das ist ein mehr als gewagte These. Wann eigentlich hat zum letzten Mal ein Elternteil beim Wunsch des Kindes "Nein" gesagt?

Aber Etchells ist durchaus trickreich. Er baut eine Kulisse aus Klischees und Vorurteilen auf, an denen sich das Ensemble und das Publikum abarbeiten. Dank der einfachen Zuweisung, des Schwarz und Weiß, des Gut und Böse, des Schuldig und Unschuldig ist es leicht, sich hier einzuordnen.

Es ist kein Fallbeispiel erzieherischer Defizite wie in "Tschick", das hier aufgearbeitet wird. Es geht um nichts weniger als um Erziehung im Allgemeinen. Diesen Anspruch untermauert Etchells durch die Fokussierung auf den Chor und den Verzicht auf jegliche Rollen. Es ist also die Jugend an sich, die hier den Eltern deren Defizite aufzählt. Diese dann vermischt mit Plattitüden, Binsenweisheiten und Naturgesetzmäßigkeiten.

Was bleibt, ist die Gewissheit, dass Kinder von ihren Eltern überfrachtet und überfordert werden. die Frage, was zur Erziehung denn nun essentiell dazu gehört, muss sich das Publikum selbst stellen. Oder wäre es besser, wenn Kinder sich ihrer selbst annehmen?

Nachdenken über Erziehungsfragen.
Fotos: Kügler
In Zeiten, in denen die Begriffe "Wohlstandsverwahrlosung" und "emotionale Verarmung" die Jugend kennzeichnen, in denen sich ein Drittel aller Kinder laut Umfrage von ihren Eltern vernachlässigt fühlt, sollte man dieses Stück bestenfalls als Situationsbeschreibung für ausgewählte Milieus betrachten. In Grone-Süd oder Kassel-Nord dürfte man bestenfalls mit einem müden Lächeln reagieren.

Die Kulisse aus Klischees und Vorurteilen funktioniert aber auch beim Publikum. Denn sie bietet im Minutentakt die Möglichkeit zu beteuern, dass es daheim ganz anders läuft und auf jeden Fall nicht so. Helikoptereltern haben immer nur die anderen.

Zumindest beteuert der härteste aller Kritiker auf dem Heimweg, dass es beim ihm zu Hause so nicht läuft.






DOMinos #1: Das Ensemble
DOMinos #2: Der Theatervirus

Material #1: Tim Etchells
Material #2: Die Publikumsbeschimpfung
Material #3: Vernachlässigte Kinder - Die Umfrage
Material #4: Tschick - Das Buch


Andere Meinungen vom härtesten aller Kritiker

Der härteste aller Kritiker - Teil eins
Der härteste aller Kritiker - Teil zwei
Der härteste aller Kritiker - Teil drei
Der härteste aller Kritiker - Teil vier
Der härteste aller Kritiker - Teil fünf
Der härteste aller Kritiker - Teil sechs
Der härteste aller Kritiker - Teil sieben
Der härteste aller Kritiker - Teil acht
Der härteste aller Kritiker - Teil neun
Der härteste aller Kritiker - Teil zehn
Der härteste aller Kritiker - Teil elf
Der härteste aller Kritiker - Teil zwölf
Der härteste aller Kritiker - Teil dreizehn
Der härteste aller Kritiker - Teil vierzehn
Der härteste aller Kritiker - Teil fünfzehn





Dienstag, 20. Februar 2018

Dunkel ins Dunkel gebracht

stille hunde lassen Dr. Jekyll und Mr. Hyde leben und sterben

Im kollektiven Gedächtnis der Belesenen sind unter dem Eintrag "Robert L. Stevenson" zwei Werke vermerkt. Nach der Schatzinsel haben sich die stillen hunden nun auch des "Seltsamen Falls von Dr. Jekyll & Mr. Hyde" angenommen. Trotz der zahlreichen Adaptionen in Film und Pop-Kultur muss man sagen: Zu recht und mit Gewinn. Davon konnte man sich am Samstag im Schloss Herzberg überzeugen.

Aus der klaustrophobischen Enge der Stadtbibliothek sind Rosemarie Matwijow und ihre Gäste in den Rittersaal umgezogen. Der Zusammenhang mit der englischen Geschichte ist zwar arg konstruiert, aber der Raum bietet reichlich Anklänge an Ambiente des viktorianischen Bürgertums im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dunkel und hölzern und überall knarzt es ein wenig, aber durchweg grundsolide.

Es ist ausverkauft, denn das Herzberger Publikum weiß, was es an Stefan Dehler und Christoph Huber hat. Man ist sich schon mehrfach begegnet und man weiß, was man voneinander zu erwarten hat. Auch die Voraussicht, mit in das Spiel einbezogen zu werden, hat niemanden abgeschreckt. 

Flaschenbürsten spielen eine
große Rolle an diesem Abend.

Fotos: tok
Die Sitze wurde neu arrangiert. Die klassische Kino-Sitzordnung wurde über den Haufen geworfen. Die Sitzreihen sind im Quadrat angeordnet. In der Mitte bleibt die Spielfläche. Ist es eine Arena? Auf jeden Fall sind die Zuschauer so mittendrin und funktioniert hat die neue Ordnung schon vor vierzehn Tagen in Göttingen.

Die Szenerie ist spärlich ausgeleuchtet. Ein Spot von links, einer rechts, sorgen für wenig Licht und viele Schatten. Fast ist es eine Aufführung in Schwarz-Weiß, nur eben nicht als Stummfilm. Auf jeden Fall ist dem Thema, den tiefen, scher zu durchschauenden Abgründen der menschlichen Seele, durchaus angemessen.

Das Vergnügen mit den stillen hunden findet auf mehreren Ebenen statt. Die erste ist die Auseinandersetzung mit dem Autor und dem Werk. Das Publikum erfährt in der Einführung wenig über Robert Luis Stevenson, aber viel über seine wechselvolle Einschätzung durch die Ordnungshüter der britischen Literatur. Die waren ihm nicht immer gewogen. Zu erfolgreich um von denen gernst genommen zu werden, lautet die Quintessenz.

Meister der Reduktion 


Wenn sie wollen, dann sind Christoph Huber und Stefan Dehler Meister der Reduktion. Ihre Spielfläche beträgt keine 20 Quadratmeter. Doch darauf lassen sie den gesamten Kosmos einer untergegangenen Epoche entstehen.

Das Bühnenbild besteht aus einer schäbigen Tür, aus den Angeln gehoben, und einem Regal voller antiquierter Labor-Utensilien. Schwupps, schon ist das Publikum im 19. Jahrhundert angekommen.

Es gibt aber auch Handfeger.
Überhaupt sind die stillen hunde Meister der reduzierten Requisite. Eine Tür genügt,  um ein JHaus zu imitieren. Eine Flaschenbürste reicht aus, um aus einem Inspektor einen alternden Arzt zu machen. Ja, richtig gelesen, Flaschenbürste. Auch das ist so ein altertümliches Utensil, das hervorragend in die Inszenierung passt.

Natürlich bedarf es noch der Einbildungskraft des Publikums, damit das Spiel mit der Flaschenbürste funktioniert und natürlich ein Änderung in der Stimmlage bei Christoph Huber. Man kennt und schätz sich halt und deswegen glauben die Zuschauer auch gern, dass der Scherz über die Gründung des ersten niedersächsischen Flaschenbürstentheater spontan und just an diesem Abend geboren wurde. Ein Abend mit den stillen hunden ist eben auch immer Mitdenk-Theater. Das Duo nimmt seine Gäste ernst

Reduziert in der Sprache, aber gewaltig in den Worten. Die stillen hunden scheinen eine Vorliebe für die opulente Sprache des späten 19. Jahrhunderts zu haben. Wenn auch zügig so doch mit Genuss zitieren sie die gestelzten und geschraubten Endlos-Sätze der literarischen Vorlage. Dabei sitz aber jedes der aufgeladenen Wörter. Das ist die zweite Ebene der Stevenson-Interpretation.

Zusammen mit dem Stechschritt, den Stefan Dehler beim Spaziergang um das Bühnenbild vorlegt, sorgt dies für ein hohes Anfangstempo. Geschwindigkeit als Ausdruck innerer Unruhe. Später wird ein Gang heruntergeschaltet.

Die Rollenverteilung


Eine szenische Lesung mit den stillen hunden funktioniert so gut, weil die Rollen so klar und eindeutig verteilt.  Stefan Dehler übernimmt stets den kühlen und berechnenden Part. Er spielt den Rechtsanwalt Utterson nicht. Das ist sein alter ego, mag man glauben.

Die emotionalen und hektischen Rollen bleiben Christoph Huber vorbehalten. An diesem Abend bedeutet dies einen ständigen Wechsel der Flaschenbürsten. Gelegentlich überschreitet er dabei die Grenze zur Karikatur.

Manchmal packt den Huber
die pure Mordlust.
Eben diese Rollenverteilung und der clash of characters ist oft genug Thema an diesem Abend. Beide geben sich gegenseitig Tipps und Anweisungen, wie das Gegenüber seine Rolle zu spielen hat. Der Disput ist aber kalkuliert und funktioniert seit 10 Jahren. Das Publikum findet auch in Herzberg Gefallen daran.

Die Reflektion über den Darsteller und das Darzustellende, das ist die nächste Ebene. Neben der Unterhaltung gibt es für die Gäste noch einen einblick in die Welt der Schauspieler. Das System funktioniert zu gut und die Frotzeleien der Darsteller drängen sich stellenweise in den Vordergrund. Aber vielleicht hat der Streit des Vortragenden für das Publikum auch eine Ersatzfunktion.

Die Gäste wissen aber auch zu schätzen, dass bei allen Umwegen und Ergänzungen die stillen hunde doch auf dem Weg bleiben. Zum schlimmen Ende gibt es keine Überraschung. Dr. Jekyll ist tot und Hyde verschwindet.

Das wartenden Buffet, die Haushälterin von Dr. Lanyon und der Kurfürst Georg, die gibt es an diesem Abend nur im Rittersaal in Herzberg. Sie finden immer wieder ihren Weg in das Beiwerk der stillen hunde. Deswegen wissen die Fans, dass bei aller Professionalität diese Vorstellung doch spontan und ein einzigartig ist und dafür gibt es reichlich Applaus.





Material #1: Der Autor
Material #2: Das Werk


stille hunde #1: Die offizielle Homepage
stille hunde #2: Der Spieplan
stille hunde #3: Die Schatzinsel in Herzberg





Sonntag, 18. Februar 2018

Ein Abend voller Kontraste

Zwei Choreographien der Gegensätze im Theater Nordhausen

Es ist faszinierend. In knapp anderthalb Jahren hat Ivan Alboresi Nordhausen zu einem Hotspot des deutschen Tanztheaters gemacht. Den Beweis dafür liefert der Doppelabend "Die Kraniche des Ibykus/In parts to gather". Es sind die vielfältigen Gegensätze, die die Choreographien zu einen Erlebnis machen. Premiere war am Freitag und es waren nicht weniger als gleich Welturaufführungen.

Schon der Ballettabend in der vergangenen Spielzeit konnte mit der Gegenüberstellung einer Choreographie aus der Tradition des Erzählballetts und reinem Tanz begeistern. Doch dieses Mal sind die Positionen vertaucht. Hatte Hausherr Alboresi noch im letzten Jahr die These untermauert, dass die Seele nicht erzähle sondern tanze, überlässt er in diesem Jahr diese Position dem Gast.

Der US-Amerikaner Kevin O'Day gehört derzeit zu den gefragtesten Choreographen weltwei. Dass er eine Einladung nach Nordhausen annimmt, ist ein Lob. Dass er hier die Uraufführung seiner neuen Bach-Choreographie platziert ist eine Auszeichnung.

Die Bühne bietet viel Platz für die raumgreifenden
Choreographie von O'Day.         Alle Fotos: TNLos!
O'Day hebt vertraute Grenzen auf, denn  der Abend beginnt schon lange bevor sich der Vorhang hebt. Musik empfängt das Publikum schon im Foyer. Vier Solisten spielen im Haus verteilt Variationen über Bach. Auf vermeintlichen Gästen werden Tänzer, die zwischen Eingang, Garderobe und Treppe ihre ersten Tanzschritte machen. So raumgreifend, dass mancher Besucher zwei Schritte nach hinten machen muss.

Der Vorhang ist gar nicht da. Auf der offenen Bühnen bewegen sich zwei Tänzer und aus den Lautsprechern klingt Vogelgezwitscher. Ist dies das Warm Up? Auf jeden Fall wird das hereinströmende Publikum zu einem Teil der Inszenierung und der Abend startet im Workshop-Ambiente.

Die Türen schließen sich und das Licht im Parkett erlöscht. Die Gäste bewegen sich wieder auf sicherem Boden. Die Musik erklingt, doch nicht aus dem Orchestergraben sondern aus dem Parkett. Eine einzelne Violine hat sich in den Rücken des Publikum geschlichen und eröffnet von dort den Reigen. Später wird ihr eine Viola aus der Loge antworten. Bach funktioniert also auch im Dialog.

Überhaupt ist es ein eher unbekannter Bach, den das Quartett an diesem Abend präsentiert. Er ist auf das Notwendige reduziert, aller barocken Pracht entlaubt und ungewohnt nur von Streicher gespielt. Streckenweise klingt er wie ein gezähmter Vivaldi.

Soli oder Duette in wechselnder Besetzung bestimmen die Musik. Die Spielorte ändern und erst zum Finale findet sich das Quartett im tutti im Bühnenhaus zusammen. Bach bekommt nun etwas bürgerlich Kammermusikalisches.

Kreisende Bewegungen und Tänzer, die den Raum durchmessen, bestimmt auch hier die Choreographie. Dazu kommen weit ausgreifende Arme, das Auge hat Schwierigkeiten, den Händen zu folgen. Es scheint, als wolle die Tänzerinnen und Tänzer jede Note zwei- oder gar dreimal tanzen bevor die nächste kommt.

Gruppenbild mit Dame. Foto: TNLos!
Doch der Kontrast zu den meist adagio oder largho vorgetragenen Musik funktioniert. Die Spannung zeigt keine Risse und Musiker und Tänzer scheinen sich immer wieder an vereinbarten Punkten zu treffen und sich erneut zu verabreden.

Der Verzicht auf jegliches erzählerisches Element öffnet dem Publikum den Raum für freie Assoziationen. Aber auch die Betrachtung ohne jeglich Intention ist möglich, pure Ästhetik und reiner Genuss eben.

Nur der wortspielerische Titel ist die Klammer: In Teilen und zusammen. Anfangs verlieren sich Elementarteilchen auf der Bühne, später wird der Pas de Deux zum vorherrschenden Modell. Dadurch wird die kühle Ästhetik durchaus um ein sinnliches Element erweitert. Höhepunkt ist ohne Frage die Hebefigur aus drei Tänzern und einer Tänzerin, die das Publikum gleich zweimal in Schönheit verstummen lässt.

Die Bühne bietet genug Platz für die raumgreifenden Bewegungen. Vor einem schwarzen Vorhang im Bühnenhaus sind lediglich einige goldene Kugel im weiten Rund platziert. Ist es ein Hexenkreis oder handelt es sich dabei lediglich um vergessenes Spielzeug. Auf jeden Fall trifft Wolfgang Kurima Rauschning mit diesem reduzierten Bühnenbild genau den Geist der Choreographie.

Für das gelungene Gesamtpaket gibt es tosenden Beifall

Opulente Ballade


Ja, wie tanzt man eigentlich Schiller? So schwermütig und bedeutungsschwanger wie der Dichter seine Worte aneinandergeschmiedet hat. Zuerst lässt man sich von Christoph Ehrenfellner die Musik schreiben, erarbeitet eine opulente Choreographie mit vielen Massenszenen und entwirft dann ein prachtvolles Bühnenbild. Klingt ganz einfach, is'es aber nicht und genau deswegen ist Alboresis Choreographie zum "Die Kraniche des Ibycus" so überwältigend.

Die Kraniche machen Ibycus zu einem der ihren.
Foto: TNLos!
Musikalische orientiert sich Nordhausens Composer in Residence an der romantischen Programmmusik. Hinter den lieblichen Holzbläsern drohen immer Schlagwerk und Blech mit baldigem Unheil. Den Akteuren werden Eigenschaften per musikalischem Thema zugeordnet, die später immer wieder auftauschen. Die Musik wird so zu einem Träger der Handlung, drängt sich aber nie in den Vordergrund. So weit zur zweiten Uraufführung.

Während O'Day auf das Ensemble setzt, stellt Alboresi natürlich den Sänger Idycus in das Zentrum seiner Erzählung. Fast schon lyrisch setzt David Nigro in der Titelrolle sein Schritte. Er ist der Vergeistigte, der die Konfrontation mit der mörderischen Realität bis zum Schluss nicht ganz begreift. Joshua Lowe und Joseph Caldo hingegen strotzen in der Rolle der Mörder nur so vor Kraft und Urgewalt.

Auch ansonsten ist es eine Choreographie in der die Gegensätze auf einander treffen. Der Solist Ibycus wird von den Griechen auf Händen getragen. Er wird Teil des Schwarms der Kraniche. Es sind gerade diese wogenden Körper, die ein Gesamtes bilden. Ein Oh-Moment reiht sich an den anderen. Zu dem Erstaunen kommt die neue Deutung und Alboresi  erweitert Schiller um nicht nur eine Ebene.

In seinen bisherigen Aufführungen in Nordhausen konnte Alboresi mit einer Mischung aus klassischen Elementen und Modern Dance überzeugen. Hier verzichtet er völlig auf Klassik, dafür stecken einige Spurenelemente an Jazz Dance in seinen Massenszenen.

Diese Casting-Show endet tödlich.
Foto: TNLos!
Nur einmal setzt er einen Rückgriff in die Vergangenheit des Ausdruckstanz. Wallende Gewänder bestimmen den Auftritt der Erinnyen und auch die Musik gleitet ins Expressionistische. Dabei ist die Bühne mit einem starken Rot bedeckt, das sich im Gegenwind wiegt. Die Batterie an Scheinwerfer erzeugt eine Fernsehstudio-Atmosphäre, doch diese Casting-Show geht tödlich aus für den Kandidaten. Leblos bleibt er im Staub liegen und wird wie Müll entsorgt.

Dies ist sicherlich nur eins von vielen starken Bildern in dieser Choreographie. Aber durch die dominanten Farben, die so im Gegensatz zu den ansonsten gedeckten Tönen stehen, prägt sie sich doch deutlich ein.

Zwei Uraufführungen, die mit Gegensätzen arbeiten und die Gegensätze des Tanztheaters zeigen, damit spannen Alboresi und O'Day an einem einzigen Abend den gesamten Bogen über das zeitgemäße Ballett. Die Begeisterung des Publikum ist der verdiente Lohn dafür.







Material #1: Friedrich Schiller - Die Biographie
Material #2: Die Kraniche des Idycus - Der Text
Material #3: Die Kraniche - Die Erläuterung

Theater Nordhausen #1: Der Spielplan
Theater Nordhausen #2: Der Ballettabend
Theater Nordhausen #3: Ivan Alboresi
Theater Nordhausen #4: Wolfgang Kurima Rauschning
Theater Nordhausen #5: Composer in residence Christoh Ehrenfellner


Kevin O'Day #1: Die offizielle Homepage
Kevin O'Day #2: Farewell in Mannheim bei youtube
Kevin O'Day #3: Kammerspiel in Mannheim bei youtube
Kevin O'Day #4: Othello in Mannheim bei youtube