Montag, 16. Oktober 2017

Eine Reise zurück in die Gegenwart

Philippe Djian liest beim Göttinger Literaturherbst

Einen Roman mit einer Vergewaltigung zu beginnen, so etwas traut sich nur Philippe Djian. Am Sonntag stellte er bei Göttinger Literaturherbst seinen Roman "Oh ..". Mit seiner Reise zurück in die Gegenwart beweist er, dass er immer noch zu den Autoren gehört, die wirklich etwas zu sagen haben.

Die zentrale Figur in einem vertüddelten Geflecht ist Michèle, eine Frau Mitte 50. Die Mitinhaberin einer Filmproduktionsfirma ist geschieden, Mutter eines Sohnes auf der Suche nach sich, hat ein Verhältnis mit Robert, dem Mann ihrer Geschäftspartnerin. Seit Jahrzehnten weigert sie sich, ihren Vater im Gefängnis zu besuchen, der einst ein solch ungeheuerliches Verbrechen begangen hat, dass Michèle und ihre Mutter lange Jahre nicht nur der sozialen Ächtung ausgeliefert waren, sondern auch im sozialen Koma lagen. In der Vorweihnachtszeit wird sie von ihrem Nachbarn vergewaltigt. Erst allmählich begreift sie, was passiert ist, und Schicht für Schicht schält sie Vergangenheit und Gegenwart frei.

Das ist die Ausgangslage in diesem Roman, der in Frankreich immerhin mit dem Prix Interallié belohnt wurde. Unter dem Namen "Elle" wurde das Werk mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle verfilmt, doch damit hat der Autor so seine Schwierigkeiten.

Die Filmpremiere liegt schon drei Jahre zurück, die Buchpremiere immerhin schon fünf und der Prix Interallié ist mitnichten eine Wald- und Wiesen-Auszeichnung. Die deutsche Erstausgabe kam seinerzeit fast geräuschlos in die Regale, die Taschenbuchausgabe folgte erst in diesem Jahr. Vielleicht liegt es daran, dass Autoren im deutschsprachigen Raum nur sehr schwer einer Schublade entfliehen können, in die sie einst gesteckt worden. Selbst dann klebt ihnen immer noch das Etikett auf der Stirn.

Das Dreigestirn: Der Autor, die Dozentin und die
Vorleserin. Foto: Kügler
Djian wird in Deutschland immer noch in die Ecke "Jugendlicher Überschwang und literarischer Roadmovie" gesteckt. Dabei liegt Zorg-Triologie schon dreißig Jahre und 25 andere Bücher zurück und außerdem geht der Mann auf die 70 zu. Damit ist er der letzte lebende Vertreter einer Generation, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts verwurzelt ist. Das Erbe der Beatniks hat er mit "Oh ..." aber in das 21. Jahrhundert hinübergetragen.

Die permanente Unterschätzung drückt auch die Unfähigkeit der Kritik aus, sich auch veränderte Situationen, auf veränderte Akteure einzustellen. Denn das alte Etikett passt nicht mehr auf diese Geschichte. Um es ganz einfach zu sagen: Djian ist gereift und öffnet sich und seinen Leserinnen und Leser neue Perspektiven. Da sollte sich auch die Kritik umstellen.

Es ist eine Mischung aus bewährt, erwartet und neu, die diese Lesung zur Überraschung macht. Sage und schreibe 17 Jahre ist Djians letztet Auftritt beim Göttinger Literaturherbst her. Doch der Mann hat deutlich gewonnen. Heißer Herbst war damals vor allem geprägt von den Verlustängsten eines alten Mannes.

"Oh .." ändert die Perspektive. Eine Frau wird zur Ich-Erzählerin. Fast schon revolutionär für einen Autor, der vielen als Dino-Saurier des Machotums gilt. Später wird Djian im Gespräch zugeben, dass er diese Perspektive bewusst gewählt habe, gerade weil sie lückenhaft bleiben muss. Als Mann könne er gar nicht wissen, was eine Vergewaltigung in allen Aspekten bedeutet.

Es entspinnt sich eine gewisse Parallelität an diesem Abend. So wird Michèle mit der häppchenweisen Verarbeitung der jüngsten Gewalterfahrung das Desaster ihrer Kindheit bewältigt, sorgt der Dialog zwischen Autor und Romanistin dafür, dass sich dem Publikum die vielfachen Ebenen von "Oh ..." häppchenweise erschließen.

Erst einen Text vortragen und dann darüber reden ist sicherlich für manche ein antiquiertes aber bestimmt kein überholtes Konzept. Selbst nicht bei Autoren, die sich einst um keine Konventionen kümmerten. Hier sorgt es dafür, dass man nicht von der Monstrosität der Geschichte überwältigt wird. Denn Michèle wird ein Verhältnis mit ihrem Peiniger eingehen.

Nein, ein Thriller sein dieses Buch nicht, betont Djian im Gespräch. Es sei eher ein Roman noir. Ja, das trifft es. Beim Lesen entstehen Bilder in schwarzweiß, die einem Film von Truffaut, Melville oder Goddard gleichen.  Was geblieben ist, ist diese lakonische Erzählweise, die reduzierte Sprache, die aber am besten geeignet ist, das darzustellen, was eine drastische Realität sein könnte.

Der Dichter hat wohl selbst
Ehrfurcht vor seinem Werk.

  Foto: Kügler
Dort, wo andere viele verbale Ranken um banale Dinge herumschmieden, lässt Djian mit wenigen Worte eine Szenerie entstehen, die man für wirklich hält und zwar bis in die verletzten Seelen seiner Protagonisten.

Der Djian-Sound ist immer noch geprägt von kurzen Sätzen, die manchmal bis ins Mark treffen und regelmäßig in ein Stakkato übergehen. Er ist ein Meister der Synkope, der Betonung außerhalb des Erwarteten. Das erzeugt die Spannung außerhalb der Geschichte.

Ein Satz und du bist mittendrin. Djian ist immer noch ein Magier des Start. Von Anfang an zieht er in den Bann oder eben nicht. Das sei auch seine Arbeitsweise. Wenn er anfange zu schreiben, dann sei dort eine Idee und der Rest komme später hinzu, erläutert der Autor. Wohl deswegen wirken Djian-Romane nicht durchkonstruiert sondern lebendig

Wie man auf diese Weise jedes Jahr einen Roman fertig kriegt, das Rezept verrät er aber nicht. Es drängt sich aber der Verdacht auf, dass Jüngere sich bei diesem Stil und dieser Arbeitsweise akuter Infarktgefahr ausliefert würden.

Aber eins verrät er noch, den Mut zur Lücke. Dabei geht nicht nur um das bereits erwähnte Eingeständnis des männlichen Unverständnis einer Vergewaltigung. Ganz bewusst lasse er Dinge aus, erzähle nicht alles bis zum Ende. In diese Lücken stößt dann die Fantasie des  Publikums vor. Djian nimmt seine Leser für voll und überlässt ihnen den letzten Schritt bei der Rezeption, anstatt alles vorzukauen. Dafür müssten die Erwachsenen ihm unendlich dankbar sein.

Denn er sei  nicht an Geschichten, nicht an Storys interessiert, die seien zweitrangig, erklärt der Meister. Entscheidend sei die Darstellung. Aus dem Rockstar des Literaturbetriebs ist der Erhabene, der Formverliebte geworden. Das kann man glauben, muss man aber nicht.  Auf jeden Fall ist der Franzose in diesem Jahr zum Ehrengast der Frankfurter Buchmesse geworden. Das wäre vor 30 Jahren undenkbar gewesen. Es wird nicht ganz klar, wer hier mehr an der Legendenbildung beteiligt ist. Literaturbetrieb als Integrationsmodell. Das enfant terrible ist  zum Monument geworden, aber nicht versteinert. Trotzdem gleitet der Abend gelegentlich in die Huldigung ab.

Um dies zu untermauern schiebt Djian hinterher, das der Kern von "Oh ..." nicht die Vergewaltigung sei sondern die Störung des Lebens, das invasive Ereignis und dessen Folgen. Die Kontrolle über das Leben zurückzugewinnen das stehe im Vordergrund. Wichtig für seine Figur der Michèle sei auch, ob man noch in der Lage sei etwas Verrücktes zu tun. Dabei gerate das Alter in den Hintergrund, bemüht er ein Stereotyp.

Je länger der Abend dauert, desto eloquenter wird Djian. Der angry old man mutiert  immer mehr zum geistreichen Plauderer. Das Publikum profitiert davon, denn es öffnen sich immer Tür zum Verständnis dieses Buches

Nach anderthalb Stunden bleiben keine Fragen mehr offen und in die Lücken, die dann doch bleiben, kann die Fantasie der Zuhörerinnen und Zuhörer stoßen. Auf jeden Fall bleibt die Erkenntnis, dass sich Djian neu erfunden hat und damit noch wertvoller ist als je zuvor.





Göttinger Literaturherbst #1: Das Programm

Philippe Djian #1: Die Biographie
Philippe Djian #2: Das Buch





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