Montag, 27. März 2017

Komisch, befremdlich, tieftraurig, optimisch und auf alle Fälle anrührend

Supergute Tage im Theater für Niedersachsen

Wie bringt eine Handlung, die auf Innerlichkeit beruht, in die Äußerlichkeit einer Theaterbühne? Jörg Gade hat es vorgemacht. Seine Inszenierung von "Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone" am Theater für Niedersachsen ist befremdlich und mitfühlend, tieftraurig und optimistisch, erschreckend und komisch und auf alle Fälle anrührend. Der Erfolg beruht auch auf dem mitreißenden Spiel der beiden Hauptdarsteller Marek Egert und Martin Schwartengräber.

Christopher Boone ist 15 Jahre alt und an Asperger erkrankt. Er besucht eine Förderschule und lebt mit seinem Vater zusammen. Eines Abends entdeckt er den toten Hund der Nachbarin Mrs. Shears. Mr Wellington wurde mit einer Forke in ihrem Vorgarten ermordet. Trotz väterlichem Verbot macht sich Christopher auf die Suche nach dem Mörder.

Mit seinen unbedarften Fragen und seinen offensichtlichen Ängsten bringt er die Fassaden der Erwachsenen zum Wanken und auch zum Einstürzen. Auf dem Weg zur Wahrheit muss er viele Enttäuschungen hinnehmen. Er verliert das Vertrauen und findet es wieder und er gewinnt jede Menge Selbstbewusstsein und letztendlich findet er seine tot geglaubte Mutter wieder.

Die schwierige Vater-Sohn-Beziehung eskaliert.
Alle Fotos: Jochen Quast 
"Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone" oder besser im Original "The curious Incident of the Dog in the Night-Time" war das erste "Erwachsenenbuch" von Mark Haddon. Zuvor hatte er sich einen Namen als Autor von  Kinder- und Jugendbücher gemacht.

Im Prinzip bleibt das Werk ein klassischer Entwicklungsroman. Aber in Form des besonders schutzbedürftigen Christopher Boone macht Haddon deutlich, wie wichtig es ist, das menschliche Miteinander auf der Basis von Vertrauen und Empathie aufzubauen; auch bei Erwachsenen.

Genau dies macht die Inszenierung von Jörg Gade deutlich. Das liegt am gelungenen Gesamtpaket aus Dramaturgie und Bühnenbild und vor allem den beiden Hauptdarstellern.

Seien es die fahrigen Bewegungen,  die nervösen Finger, die schleppende Sprechweise oder stets gebückte Haltung. Mit jedem Detail macht Marek Egert die Verletzlichkeit des Asperger-Autisten Christopher Boone deutlich, geradezu direkt erfahrbar. Wenn er leidet, dann leidet das Publikum mit und wenn er seine Hilflosigkeit herausbrüllt, dann möchte das Publikum mitbrüllen. In den Momente des Schweigens schluckt man den Kloß im Hals hinunter oder man wäscht sich das Pipi aus den Augen. Das gilt vor allem für Wiederentdeckung der Modelleisenbahn als Anker in eine vermeintlich heile Vergangenheit

"Rain Man" war Kindergeburtstag, Christopher Boone ist Realität. Egert liefert eine Leistung voller Empathie ab und deswegen freut sich das Publikum um so mehr, als der scheinbar Behinderte über sich hinauswächst, die Ängste überwindet, seinen Weg in einem vermeintlichen Chaos und sich der Kontrolle durch Eltern und Erzieher zum Teil entzieht.

Die Wiederentdeckung der Modelleisenbahn ist ein
Anker in die Vergangenheit. Foto: J. Quast
Martin Schwartengräber gelingt es in der Rolle des Vaters Ed Boone die anderen Akzente zu setzen. Ständig changiert er zwischen Entschlossenheit und latenter Überforderung. Da ist immer wieder dieser nervöse Griff ins eigene Haar, die breitbeinige Posen sollen nur kaschieren, aber die Stimme verrät die eigene Unsicherheit. Schwartengräber blättert die gesamte Tiefe dieser Person auf.

Weiß, abgeschlossen und eng. Das Bühnenbild von Hannes Neumaier vermittelt auf dem ersten Blick klaustrophobische Beklemmungen. Es steht für die Enge und Abgeschlossenheit des Mikrokosmos einer Kleinstadt und Christophers Eingesperrt sein in seiner eigenen Gefühlswelt. Die Lichtführung verstärkt  diesen Eindruck immer wieder.

Dann sind da immer wieder die Türen, die von rechts und links auf die Spielfläche fahren. Den Zuschauern versperren sie den Blick in die Tiefe und zergliedern den Mikrokosmos Kleinstadt in immer kleinere Teile. für Christopher sind es unüberwindbare Hürden,

Die unerwarteten Tempowechsel machen diese Inszenierung so eindringlich. Auf ruhige Erzähl-Phasen folgen unvermittelt Schreie und Getrampel und dann auf einmal Momente des Schweigens. Besonders die London-Sequenz ist davon geprägt. Aus der Enge des Kleinstadt Swindon wird schlagartig das rasante Treiben der Millionenstadt. So macht Gade das Chaos im Kopfe des Kranken deutlich. Damit liefert das TfN eine intelligente Aufführung ab, die nicht nur Herz hat sondern intelligent vermitteln kann. Damit ist "Supergute Tage" wohl so etwas wie ein komplettes Werk.



TfN #1: Der Spielplan
TfN #2: Das Stück

Stück #1: Der Autor




Dienstag, 14. März 2017

Boa ist ein Abgott


Mit dem Voodooclub auf Reise in die zukünftige Vergangenheit

Ich soll eine Besprechung eines Konzertes von Phillip Boa an the Voodooclub schreiben? Das müsste wegen Befangenheit ausfallen, Euer Ehren. Ich bin Fan.

Rückblende Frühling '89: Auf ihrer ersten großen Deutschland-Tour spielen Phillip Boa and the Voodooclub vor ausverkauften Hallen. In Göttingen verirren sich gerade mal 40 Gutinformierte in die Stadthalle. Der Veranstalter schäumt vor Enttäuschung. Eine Woche zuvor herrschte hier bei einem Wader-Konzert drangvolle Enge. Jetzt haben die Getreuen viel Platz.

Völlig unbeleckt vor Ort wird der Abend eine musikalische Offenbarung für mich. Vergleichbares hatte ich bis dahin nicht gehört. Die Parallelen zur verkopften Musik von Stockhausen schiene mir schon damals recht. Vergleichbares habe ich seitdem auch nur von Boa gehört. An diesem Abend trat ich der Sekte bei und wurde ein Anhänger des Voodooclubs.

Aufblende Frühling '17: Auf ihrer ausverkauften Deutschland-Tour spielen Phillip Boa and the Voodooclub wieder in Göttingen. Dieses Mal in der musa. Erster auffälliger Unterschied: Dieses Mal ist es ausverkauft. Zweiter auffälliger Unterschied: 28 Jahre zuvor standen viele Fahrräder vor der Stadthalle, heute ist der Parkplatz im Hagenweg überbelegt. Der Boa-Fan von heute fährt nicht Zweirad sondern Passat, 5-er BMW, Audi A6 oder gleich Benz.

Thari Kaan ist die Neue an der Seite von Phillip.
Foto: Kügler
Alles andere wird aber zur Reise in die Vergangenheit, von der man wünscht, es wäre die Zukunft. In und an der musa versprüht vieles Jugendzentrum-Charme. Rau und ungeschliffen. Das Bier wird flaschenweise verkauft. Es gibt keine Parallelen zu den Hightech-Multifunktionshallen, in denen heutzutage Rockmusik vermarktet wird.

Die 40 Zuschauer haben sich verzehnfacht, aber damit ist die Kapazität schon deutlich erschöpft. Alle warten auf den Meister, während sich auf der Bühne die schlechteste Vorband aller Zeiten abmüht. Zu melodie- und rhythmusbefreiten sphärischen Klängen erzählt eine junge Dame von ihrer Teenagernöten. Vielleicht erinnern sich einige im Publikum an die fernen Zeiten, als sie oder er selbst Teenager war und Nöte hatte. Auf jeden Fall gibt es anerkennenden Applaus für so viel Mut. Nach 35 Minuten hat das Leiden ein Ende.

Damals im Frühling '89 in der Stadthalle Göttingen lag ich altersmäßig im Mittelfeld. Daran hat sich nichts geändert. Wir sind mehr geworden, deutlich mehr, aber wir sind auch gemeinsam gealtert. Ein Boa-Konzert ist auch eine Ü50 Party.

Generation Latte Macchiato

Aber keine Angst, es sind auch Jüngere dabei. Die Generation Latte Macchiato erkennt man schnell an den Ohrenstöpseln. Lass gut sein. Warum man Ohrenstöpsel zum Rockkonzert trägt, das wird ein alter Mann wie ich sowieso nie verstehen.

Später stellt sich heraus, dass ein Ü50-Konzert auch optische Vorteile hat. Die Zahl derer, die einem mit dem Smartphone den Blick auf die Bühne verbauen, ist in dieser Altersklasse überschaubar.

Es ist 21.00 Uhr. Der Meister betritt die Bühne, das Konzert beginnt pünktlich.

Aber Art von Musik machen Phillip an the Voodooclub eigentlich? Postpunk bestimmt nicht. In diese Schublade passen die Hymne "Kill your idols" oder "I dedicated my Soul to you" gerade so mit Ach und Krach.

Es bleibt dabei: Die Gitarren sägen
und kreischen.
  Foto: Kügler
Treibende und scheppernde Percussions, sägende und kreischende Gitarren, ein trötendes Keyboard, der hypnotisierende und leicht nasale Sprechgesang von Boa kontrastiert von einer ätherischen und engelsgleichen weiblichen Stimme. spätestens mit Cooperfield hatten sich Boa und seine Musiker schon 1988 einen ganz eigenen Kosmos erarbeitet. Manchmal schimmert ein wenig The Cure oder The Smiths durch, aber der Rest ist sehr eigenartig.

Es sind kleine Geschichten aus einem surrealen Alltag,von denen Boa spricht und seine Begleitung singt. Seine Texte haben nichts gemeinsam mit der Larmoyanz aktueller deutscher Musiker. Dem falschen Pathos und der Schwülstigkeit solcher Heulbojen wie Xavier Naidoo oder Andreas Bourani setzt er pure Energie entgegen. Aus der Verwunderung über die Welt wird Zorn und Erstaunen aber niemals Selbstmitleid.

In Deutschland weiß man das nur bedingt zu schätzen. In Großbritannien ist diese Formation ein Liebling der Fachpresse. Zwölfmal "Album of the Week", das schaffte sonst niemand aus old Germany.

Das Konzert beginnt und die Fans ganz vorne an der Bühne sind gleich in Bewegung. Der Meister zeigt sich ein wenig verwundert über soviel Nähe. Trotzdem geht es weiter.

Der Opener ist "Kill the Future". Das ist programmatische Aussage genug, aber der Imperativ "Kill" spielt eine große Rolle in der Lyrik des Herrn Boa. "Kill your idols" und "Kill the vacations". Wenn ich mal Zeit habe, dann werde ich an der Göttinger Senioren-Uni bestimmt über das Thema "Die vielschichtige Bedeutung des Verbs 'Kill' im Werk des Phillip Boa und seine präadoleszente Herkunft" promovieren. Wie gesagt, wenn ich mal Zeit habe.

Auch "Then she kissed her" ist eher verhalten, aber dann folgen "Annie flies the Lovebomber" an "Get terminated" und es geht ab und zwar ordentlich. Die Generation Ü50 beweist, dass sie immer noch Pogo tanzen kann und wenn es sein muss tut sie dies 45 Minuten lang. Selbst das Armani-Sakko vor mir fängt jetzt an zu zappeln.

Pure Musik, pure Energie

Es ist pure Energie und die muss raus. Dreiviertel der Anwesenden singen lauthals mit. Später wird es aus 400 Kehlen mächtig dröhnen "Albert is a headbanger, Albert is a fatbanger". Das ist deutlich mehr als im Frühjahr '89.

Es ist pure Musik und die überzeugt. Eigentlich machen Boa und der Voodooclub alles falsch, was man heutzutage im Rockbiz falsch machen kann. Es gibt keine ausgefeilte Choreographie, keine es liegen keine Jungfrauen an Drahtseilen über die Bühne und es gibt explodierende Fontänen. Da stehen einfach sechs Musiker auf der Bühne, die Überzeugungstäter sind, und dazu blinkt hier mal ein buntes Licht  und dort mal eins. Das war's und das Publikum will auch nichts anderes.

Es herrscht fas frei Sicht auf die Bühne.
Auch marketingmäßig verweigert sich Boa. Es ist ein Konzert und keine Release Party. Hier wird Musik gemach und kein aktuelles Album promotet. Das Programm versammelt Songs aus mehr als 30 Jahren. Die Jungs könnten bis Ostern weiterspielen, es wäre kein einziger schwacher Song darunter, so groß ist mittlerweile die Auswahl.

Und bei jedem Song geht das Publikum euphorisch mit. Eine Sekte feiert hier ihre Messe. Phillip Boa ist ihr Abgott und er weiß das. Früher war es ein Problem, heute hat er seine Launen im Griff. Das Verhältnis zum Publikum ist entspannter. Es ist nicht Musik von oben herab, sondern Boa und seine Fans sind zu einem Gesamtkunstwerk verschmolzen. Man hat sich nicht aneinander gewöhnt, man ist eine Symbiose eingegangen.

Nach 35 Minuten Dauerbewegung krampft dann meine rechte Wade. Es leigt nicht am Alter. Ich schiebe es auf tablettenbedingten Mineralienmangel. Da ist es gut, dass Boa nun auch mal einen Slow Song einschiebt wie "Til the Day we are both forgotten". Damit beendeten 2013 Phillip Boa und Pia Lund 2013 ihre jahrzehntelange On-off-Beziehung. Doch selbst dieses Lied hat mehr Dynamik als das durchschnittlich Album eines deutschsprachigen Jammerrocker.

Für den größten Teil des Publikums könnte es weiter gehen als gäbe es kein Morgen. Mindestens noch bis Ostern. Kill the Future eben, so sehr sind sie in den guten alten Zeiten verhaftet. Ein Konzert mit Boa und dem Voodooclub ist eine Reise in eine Vergangenheit, von der man hofft, es wäre angesichts des Jammers auf deutschen Bühnen, doch bitte wieder die Zukunft.




Die musa #1: Die offizielle Website
Die musa #2: Der Veranstaltungskalender


Phillip Boa and the Voodooclub #1: Der wikipedia-Eintrag
Phillip Boa and the Voodooclub #2: Die offizielle Website