Freitag, 29. Dezember 2017

Wie eine Dusche für die Seele

Konzert mit vielen Genussmomenten:  Niniwe im Kreuzgang Walkenried

Es braucht ganz zwei Tage Arbeitswelt und Berufsverkehr, um einen aus der Tiefenentspannung der Festtag herauszutreten. Es braucht lediglich zwei Minuten niniwe, um wieder in dieses Paradies einzutreten. Bei ihrem Konzert am Donnerstag im Kloster Walkenried gaben die vier Vokalartistinnen dem Publikum jenen Zauber der weihnachtlichen Friedfertigkeit zurück.

Es war nicht "some procedure as every year". Statt Kaffeehausorchester oder Amarcord durften das Quartett aus Berlin erstmals die Spielzeit der Kreuzgangkonzerte beschließen. Es hat sich schlicht und einfach gelohnt. Ensemble und Programm passten zu Zeit und Ort. Die reduzierte Aufführung schuf den nötigen Raum für die Rückbesinnung.

Konzentration auf das Wesentliche, das ist das Konzept der vier Sängerinnen und der Arrangements von Winnie Brückner. Keine Lichtspiele und auf Showeinlagen muss man wohl bis zum Sankt Nimmerleinstag warten. Hier spricht die Musik für sich: Vier Stimmen in perfekter Abstimmung. Dafür gab es auch auf internationalen Bühnen zahlreiche Auszeichnungen.

Winnie Brückner (vorne) ist das Mastermind bei
niniwe.                          Fotos: Kügler
Mit zweimal Sopran und zweimal Alt scheint die Bandbreite eingeschränkt, doch auch dieser Schein trügt. Schließlich kann man einen Sopran mal so und mal so singen und wenn frau dann auch noch den Alt variiert, dann kommt da schon ein Menge bei herum. Die Einzelstimmen fließen in eine Gesamtstimme ein.

Kein Beatboxen, kein Barbershop, keine duub-duub --- duub-duub-Linien und auch keine imitierte Rhythm-Section. Niniwe setzen ganz auf Melodie und Harmonie. Damit gehen sie eine Symbiose mit dem Klanggewohnheiten des Kreuzgang ein. Das erzeugt diese wohltuende Innerlichkeit.

Auf dieser Basis kommen Sängerinnen und Publikum sehr gut durch den ersten Teil. Darin finden sich gregorianische Gesänge genau so wie europäische Volksweisen und Pop-Songs. Die Bearbeitungen durch Brückner lassen die Vielfalt in der Einheit bestehen.

Erst beim Bach-inspirierten "O Jesulein zart" zeigen die Damen, dass sie auch anders können. Jetzt zeichnet sich doch eine leichte  duub-duub --- duub-duub-Linie am Horizonte ab, locker und leicht klettert Hanna Schellmann gescatete Tonleitern hoch und runter. Bach verträgt doch jede Menge Jazz.

Auch beim schwedischen Staffansvisa wird es noch ein mal rhythmischer. Die Sängerinnen schaffen es sogar, die so typischen Drehleiern zu imitieren. Den Höhepunkt im ersten Teil setzt Winnie Brückner mit ihrem Solo beim Gloria in Cielo. Es schwingt sich an den Säulen des Kreuzgang empor und verhallt dort in luftiger Höhe ganz langsam im weiten Raum. Es war eine weise Entscheidung, auf Mikros und Verstärker zu verzichten.

Hier zeigt sich Einkehr und Innerlichkeit ohne Religiosität. Das kommt aus tiefster Seele und kann auf den theologischen Diskurs verzichten. Besser kann man einen "Augen-zu-und-einfach-genießen"-Teil wohl nicht besser beenden. Nach der Pause gibt es das Kontrastprogramm. Nun zeigen die Damen, warum sie unter dem Label Jazz firmieren.

Im zweiten Teil gab es nicht nur anderes Licht
sondern auch ein wenig Bewegung.      fotos: Kügler
Bei den Rhymes of an Hour swingt ordentlich. Es darf gescatet werden und jede der Damen kommt zu ihren Einsatz. Doch gleich kommt die überraschende mit den Beach Boys.Trotz Satzgesang in höchster Harmonie mach "'Til i die" deutlich, was bleibt, wenn der kalifornische Traum zu Ende ist.

Höchst komplex wird es beim Spinnin' Wheel. Lena Sundermeyer macht im Solo jede Volte mit, die Blood, Sweet & Tears hier einst schlugen. Bach verträgt Jazz, aber Grieg auch. Hanne Schellmann besingt Solveig's Sang lyrich, geradezu elfengleich. Doch das ist nur ein Täuschungsmanöver. Schon in der zweiten Strophe klettert sie wieder Tonleitern rauf und runter, während die Mitsängerinnen für den Rhythmusteppich sorgen.

Es ist Winnie Brückners Credo, dass es nicht darum geht, die Kriterien einer Musikgattung zu erfüllen, sondern viel darum, den Geist, die Aussage deutlich zu machen. Wenn Ausdruck auch noch auf Kunstfertigkeit trifft, dann bleiben keine Wünsche offen.

Es gibt Konzerte, danach kann man nicht nur den ärgsten Feinden sondern sogar den engsten Verwandten verzeihen. Manchmal auch den Kollegen. Dieses war so eins.


Niniwe #1: Die Website
Niniwe #2: Das Selbsterklär-Video bei youtube
Niniwe #3: Der Auftritt bei facebook


Kreuzgangkonzerte #1: Die Website
Kreuzgangkonzerte #2: Der Auftritt bei facebook







Sonntag, 10. Dezember 2017

Make Musical great again

Göttingen first: DT zeigt Uraufführung von Marilyn-Monroe-Musical 

Der Erfolg hat drei Säulen: Starke Darsteller, eine großartige Inszenierung und eine schonungslose politische Analyse. Das Musical "America first" überzeugt in allen Belangen. Die Uraufführung am Deutschen Theater Göttingen ist  nicht nur der Blick auf eine der Ikonen der Pop-Kultur. Es ist zugleich eine Abrechnung mit den USA und das auf äußerst unterhaltsame Weise. Das Libretto von Christoph Klimke verzichtet aber durchweg auf den Zeigefinger.

Eine Platinblondine hockt sich in einen knallroten Pullover. Dieses Bild gehört zum kollektiven Gedächtnis und jeder weiß, dass die Frau Marilyn Monroe sein muss. "America first" setzt im August 1962 ein. Seit der berühmten Fotosession mit Milton Greene sind sieben Jahre vergangen und aus der unbeschwerten Marilyn Monroe ist eine alternde Diva mit Depressionen geworden. Sie zitiert Shakespeares Ophelia und damit ist klar, dass hier bald gestorben wird.

Mit diesem Bild schafft Erich Sidler einen Einstieg, der zum einen die Fronten klärt, zum anderen durch die Anknüpfung an bekanntes Bildmaterial das Publikum bindet und gar mit ein bezieht. Schließlich projiziert  jeder aus der Altersklasse Ü 30. Im Erfolg wie im Scheitern ist sie wohl die Filmikone des 20. Jahrhunderts.

Kaum kommt eine Kamera ins Spiel, macht es bei Norma
Jean "Klick". Alle Fotos: Thomas Jauk
Als die Geister der vergangenen und zukünftigen Weihnacht tauchen Natasha Lydess und Gladys Pearl Baker aus. Die Schauspiel-Lehrerin soll sie auf die Theaterbühne bringen. Marilyn Monroe will um jeden Preis die Anerkennung als ernsthafte Künstlerin und der Umzug nach New York ist der offene Bruch mit dem kalifornischen Film-Business. Das Verhältnis zur ungeliebten Mutter möchte Norm Jean Baker endlich bereinigen.

Wie an der Kette aufgereiht tauchen in schneller Folge all jene Ikonen aus den USA der 50er und 60er Jahre auf. Doch  der Fokus liegt auf dem Verhältnis der Monroe zu den beiden Kennedy-Brüder John F. und Robert. Theater, das sich an historischen Geschehen abarbeitet, muss sich immer den Vergleich mit den vermeintlichen Tatsachen gefallen lassen. Fakt ist, dass Marilyn Monroe am Morgen des 5. August tot aufgefunden wird, mit einer riesigen Menge Beruhigungsmitteln im Blut. Eins machen Autor und Regisseur deutlich: Der Schlüssel zu den Geschehnissen liegt bei den Kennedys und in den politischen Verhältnissen zu den Zeiten des Kalten Kriegs

Eins macht die Inszenierung immer wieder deutlich. Norma Jean Baker war als Marilyn Monroe wohl die erste selbst geschaffene Marke im Filmbusiness, aber die Kontrolle über ihre Person entglitt ihr weil sie sich mit mächtigen Gegnern angelegt hat: Der öffentlichen Erwartung und die Politik. Damit wird das Psychogramm einer Gescheiterten erweitert um die Dekonstruktion der Legenden John F. Kennedy. Genüsslich und ohne Zeigefinger führen Klimke und Sidler vor, dass die Anzahl der  Leichen, die jener JFK im Keller hat, mehrere tausende beträgt. Die These, dass die Herrschaft der Trumps nur die logische Konsequenz ist, gewinnt im Laufe der Aufführung an Plausibilität. Noch nicht einmal "America first" ist eine Erfindung von Trump. Diese Parole galt schon immer. Das Kollektiv ist entscheidend, das Individuum muss sich dem unterordnen.

Ein Bühnenbild so einsam wie ein Gemälde von Edward
Hopper. Foto: Thomas Jauk
Sidler und Klimke pflegen eine deutliche Sprache. Die Euphemismen der Political Correctness sind nicht ihre Sache und das ist auch ganz gut so. Sie benennen die Zustände der amerikanischen Gesellschaft, der Politik und der Flimbranche klar und mit einem Zynismus, der an die Schmerzgrenz geht. Das ist Teil ihrer Demaskierungsstrategie.

Es ist konsequent, dass Sidler in einem Musical über einen Filmstar die Mittel des Films aufgreift. Die Szenen aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wechseln sich in harten Schnitten ab. Rückblenden und Vorwegnahmen ermöglichen eine anachronistische Erzählweise. Vergangenheit und Zukunft spielen in die Gegenwart hinein.

Auf Realtheater folgen surrealistische Traumszenen, das Handeln auf der Bühne wird mit Video-Projektionen überblendet. Das gibt der Inszenierung Tempo und beschleunigt die Abfahrt auf der schiefen Ebene. Die Verwendung von zwei Schlafzimmer erinnert an die Technik des Split Screens, die eben in den 60-er Jahren entwickelt wurde. Die Bindung an einen Ort wird aufgehoben. Los Angeles und New York finden zugleich statt.

Der todgeweihten Diva stellt Sidler die junge Marilyn Monroe an diese Seite, um die unterschiedliche Zeitebenen zu parallelisieren, Damit setzt er auf der epischen Ebenen noch ein "Was wäre gewesen, wenn...".  Mit diesem Techniken hebt Sidler die Limitierung des Schauspiels auf.

Aber mit Freude widmet er sich den Insignien des klassischen Musicals. Sogar Choreographie kann  man mittlerweile am Deutschen Theater Göttingen. Mit diesen Mitteln baut Sidler frech und augenschmunzelnd Szenen aus MM-Filmen nach. Der Kontrast zum vergnügten und akrobatischen Show-Tanzen macht das Elend der Realität aber umso deutlicher.

Genauso großartig ist auch das Bühnenbild von Florian Barth. Es vereint die Insignien des Luxus und der Armut gleichermaßen. Die Beleuchtung entscheidet über Glanz oder Elend. Zwei kahle Wände, zwei Betten, ein Fenster, dazwischen jede Menge Leere. Es ist einsam wie ein Gemälde von Edward Hopper.

Marilyn Monroe hat viele Liebhaber aber keinen
Gefährten. 
Als musikalischer Leiter präsentieren Michael Frei and his Marvelous Mates jede Menge Swing. Eine Musikrichtung, die ja wie die Monroe Anfang der 60-er Jahre die besten Zeiten hinter sich hatte. Zweimal wird die Vorgabe durchbrochen. Kurz vor der Pause besingen Roman Majewski und Angelika Fornell ahnungsvoll den "River of no return". Der Hit aus dem Erfolgsjahren der Monroe kontrastiert hervorragende mit dem anschließenden Monolog der Einsamkeit. Fornell hat hier einen ihre eindrucksvollsten Momenten.

Der zweite Akt wird mit Bebop eingeläutet, hektisch und atemlos. Als der Vorhang sich hebt, entspinnt sich ein alptraumhaftes Kesseltreiben gegen die Monroe. Von hier aus gibt es keinen Return in ein vermeintliches Glück. Musikauswahl als Mittel der Dramatik. Elton Johns "Goodbye Norma Jean" ist nur der Soundtrack zum Leichenbeschau und enttäuscht mit einer gewissen Zwangsläufigkeit.

Ohne Frage ruft Angelika Fornell in dieser Aufführung ihr gesamtes Potential ab. Hoffnung, Liebe, Verzweifelung, Trotz und Depression. Sie bringt alles gleichermaßen auf die die Bühne. Gekonnt ahmt sie die Gestik der der Monroe nach, diese ständig jungmädchenhaft abgespreizten und verwinkelten Arme. Damit ist Fornell einer der Gründe, warum diese Inszenierung durchweg gelungen ist.

Mit der Stimme nährt sie immer wieder die Hoffnung der Monroe auf die Anerkennung als ernsthafte Schauspielerin anerkannt und zu werden. Genauso deutlich macht sie, warum dieses Ansinnen zum Scheitern verurteil war. In 29 abendfüllenden Filmen hat sie mitgewirkt und zehnmal die Hauptrolle gespielt. Aber nur mit "Misfits" ist ihre Filmkunst gelungen, doch der Film kam 10 Jahre zu früh für das Publikum und zu spät für die Monroe. Im Grunde hat sie sich selbst gespielt und das war gar nicht gut.

Es waren immer zwei zugleich: Norma
Jean Baker und Marilyn Monroe.

Foto: Jauk
Moritz Schulze als First Lady Jackie Kennedy ist ihr ebenbürtig und Widerpart zugleich. Er gibt jenem schmerzhaften Zynismus die passende Stimme und mit seiner Gestik verleiht er der Überheblichkeit des Etablissement die nötige Präsenz, die die Grenze zur Karikatur überschritten hat.

Das Aufeinandertreffen der Monroe und der Präsidentengattin auf dem Straßenstrich von Los Angeles hat eine nicht zu übersehende Aussage: Eigentlich prostituieren sie sich beide, nur die eine macht es erfolgreicher. Gleich wird die Kennedy ins Bett von Aristoteles Onassis springen. Die von Bettina Latscha stilecht mit Pillbox und Hermes-Tasche drapierten Background-Jackies machen deutlich, dass jene Jackie nicht nur modisch viel Nachahmerinnen hat.

Für die skurrilen Momente ist Volker Muthmann in der Rolle des Ralp Greenson zuständig. Mit einem wissenden Schmunzeln macht er deutlich, dass der Psychiater als an der Grenze des Pathologischen steht. Die eindrucksvollste Gesangseinlage liefert aber Katharina Müller mit voller und kraftvoller Stimme.

Bei allem harten Realismus und schmerzenden Zynismus endet die Inszenierung dann doch lyrisch. Gaia Vogel als Norma Jean Baker und Volker Muthmann als ihre Jugendliebe André de Dienes lassen noch einmal einen "Was wäre eigentlich gewesen, wenn ..."-Moment aufleben. Damit ist der Abschiedsschmerz aber nur noch größer.




Deutsches Theater #1: Der Spielplan
Deutsches Theater #2: Das Stück

Material #1: Autor Christoph Klimke bei wikipedia
Material #2: Marilyn Monroe bei wikipedia













Sonntag, 3. Dezember 2017

Ich wollt wie Eurydike singen

Barocke Opernpracht: Telemanns Orpheus am TfN

Still und leise ginge das Telemann-Jahr zu Ende, gäbe es nicht das Theater für Niedersachsen. Dort stellte man sich dem Wagnis "Orpheus oder die Beständigkeit der Liebe". Die selten gespielte Oper zeigt in der Inszenierung von Sigrid T'Hooft barocke Opernpracht mit hohen Unterhaltungswert. Am Samstag war Premiere am TfN.

Die Regisseurin Sigrid T'Hooft hat sich einen Ruf als Spezialistin für historische Aufführungspraxis gemacht. Ihre Inszenierungen wandeln dabei auf dem schmalen Grat zwischen angewandter Musikwissenschaft und opulenter Unterhaltung. Mit Imeneo bei den Händel-Festspielen in Göttingen konnte das niedersächsische Publikum 2016 zum ersten Mal einen Blick auf ihr Konzept werfen. Ihr Orpheus am Theater für Niedersachsen (TfN) ist Bestätigung und Ausbau zugleich.

Opulenz an allen Orten. Diese Inszenierung ist ein Fest für Augen und Ohren, das vor allem erst einmal unterhalten möchte. Musik, Schauspiel, Gesang, Ballett und Bühnenbild verschmelzen zu einem mächtigen Gesamtwerk. Manch Unerfahrenem droht Atemstillstand unter der Last der Eindrücke. Die Ooooh-Momente reihen sich aneinander.

Um es vorweg zunehmen: Zum guten Schluss erlebt
Orasia ein böse Ende. Foto: TfN
Puristen mag es sauer aufstoßen, dass der Gesang hier nur einer vor fünf gleichberechtigen Teilen ist, aber dieses Konzept eines Gesamtkunstwerkes entspricht nun einmal barocker Lebensauffassung.  Dabei zeugen einige Element aber durchaus von ein wenig Selbstironie. Hier gilt die alte Erkenntnis: Wer die Zeichen deuten kann, der hat mehr davon.

Dann geht es über die reine Unterhaltung hinaus. Deutlich wird dies an der Handstellung. Was auf den ersten Blick gespreizt und affektiert wird, entspricht ganz einfach barocker Aufführungspraxis.

"Orpheus oder die Beständigkeit der Liebe" zählt zu Telemanns Werken, in denen sich schon einige Elemente der Klassik ankündigen. Ausdruck und Liebreiz stehen in weiten Passagen vor der Regelhaftigkeit barocker Tonsetzkunst. Mit den Arien in Italienisch und Französisch erweist er den Zeitgenossen Händel und du Boulay die Referenz und macht keinen Hehl daraus, dass er sich von ihnen hat anregen lassen.

Die TfN-Philharmonie unter der Leitung von Florian Ziemen schafft ein fein gewirktes Klangbild, mit transparenten Strukturen werden die melodische Vielfalt Telemanns hörbar und erlebbar. Gerade in den pastoralen Passagen, wenn Telemann Volksmusik und bäuerliche Tänze aufgreift, Gerade die vom Wahl-Hildesheimer so geschätzten Holzbläser und vor allem die Flöten in jeglicher Form kommen hier voll zur Geltung.

Meike Hartmann hat trotz Verschleierung einen
glockenklaren Sopran. Foto: TfN
Ergänzt wird dies mit der Verschmelzung italienischer, französischer und deutscher Traditionen zu einem gesamteuropäischen Werk. Diesem gesamten Reichtum setzt die TfN-Philharmonie in klingende Münze um. Im ersten Akt führt Ziemen das Orchester sichtbar mit großen Gesten, doch länger die Aufführung dauert, desto zurückhaltender wird sein Dirigat. Das entspricht dem Geist dieses lyrischen Werkes.

Lyrisch ist vor allem Peter Kubik in der Titelrolle. Selten baut er seine Stimme zum vollen Volumen aus. Aber so erzeugt er einen Strom von Tönen die zwischen lieblich und klagend changiert. Das ist der treffende Ton für die "Gern allein"-Arie des ersten Aktes.

Erst im Duett mit Meike Hartmann als Eurydike legt er die Beschränkung ab und nutzt sein Potential. Überhaupt verzaubert Hartmann mit einem lyrischen Sopran. Er klingt klar und rund und ohne Spitzen. So setzt sie die weichen Töne und gehört damit zu den tragenden Sängern in dieser Aufführung.

Naturgemäß ist Siri Karoline Thornhill der Gegenentwurf. In der Rolle der Königin Orasia traf sie Körperlichkeit in das Spiel bringen und beweist unter den weiblichen Rollen die größte Präsenz auf der Bühne. Die dreifach Belastung aus Intrigantin, enttäuschter Liebhaberin und Rachegöttin bewältigt sie eindrucksvoll.

Ein überraschenden Höhepunkt setzt Levente György als Pluto. Der Bass entlockte dem Herrscher der Unterwelt durchaus humoristische Momente und kann in seinem kurzen Auftritt nicht nur überzeugen sondern auch gefallen.

Mit Levente György als Pluto hat die Unterwelt
auch heitere Momente. Fotos: TfN
Achim Falkenhausen hat ganze Arbeit geleistet. Der Chor fügt sich nathlos ein in den Klang der Solisten. Das Ensemble versteht es sogar an einigen Stellen Dynamik in die zurückhaltende Inszenierung zu bringen und somit die Handlung voranzutreiben.

Kostüme und Bühnenbild sind ein Fest der Opulenz. Sie schwelgen in barocker Pracht und Farbenvielfalt. Da kommt das Auge des minimalistisch geschulten Zuschauers oftmals gar nicht. Stephan Dietrich hat sich sehr stark an den historischen Vorbildern orientiert. Trotzdem sind auch hier ironische Zitate versteckt wenn sich der Marmor als angepinsteltes Holz entpuppt, von dem auch noch der Putz abblättert. Die Kreaturen der Unterwelt erinnern ein wenig an Hyeronimus Bosch und sorgen doch für die heiteren Augenblicken in finsterer Umgebung.

Wie  schon in der Imeneo-Inszenierung in Göttingen kann der Versuch, an einigen Stellen mit Kerzen zu arbeiten, nicht überzeugen weil er nicht sichtbar wird. Die Original-Beleuchtung wird vom Kunstlicht überblendet.

Das Konzept  von Sigird T'Hooft zu originalgetreuen Aufführungen schließt offensichtlich ein dramaturgische Bearbeitung aus. Sie setzt das Werk 1:1 um. Damit stellt sich die Sehgewohnheiten des 18. Jahrhunderts über die des 21. Jahrhunderts. Die veränderten Bedingungen der Rezeption nicht zu berücksichtigen, das ist durch ein Aussage. Leider sorgt es aber auch dafür, dass die Inszenierungen mit den Soli des Eurimedes aus heutiger Sicht einige Längen aufzuweisen hat. Sie sind reine Statusmeldungen und tragen nicht zur Entwicklung der Handlung bei. Vielleicht sind auch der Zugriff auf die Social Media-Welt?

"Orpheus oder die Beständigkeit der Liebe" war ein mutiger Schritt, der sich gelohnt hat. Diese  Inszenierung eines fast verschwundenen Werkes orientiert an der historischen Aufführungspraxis stellt nicht nur ein Gesamtkunstwerk vor. Es erfüllt auch die selten bediente Sehnsucht nach Unterhaltung in barocker Hülle und Fülle.   





eine erste Kostprobe.
stätigun


Theater für Niedersachsen #1: Der Spielplan
Theater für Niedersachsen #2: Die Inszenierung

Telemann #1: Die Biografie bei wikipedia
Telemann #2: Orpheus in der englischsprachigen wikipedia
Telemann #3: Das Libretto bei operone.de
Telemann #4: Die antike Sage

Sigrid T'Hooft #1: Die Biografie bei wikipedia
Sigrid T'Hooft #2: Das Schaffen bei corpo barocco
Sigrid T'Hooft #3: Imeneo bei den Göttinger Hände-Ffestspielen 2016



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Montag, 27. November 2017

Aus Freude am Verbrechen und am Spiel

Zwei wie Bonnie und Clyde im hoftheater

Das nennt mal wohl "Wie auf dem Leib" geschrieben. Im hoftheater läuft die Gaunerkomödie "Zwei wie Bonnie und Clyde" und nicht nur Petra Döring-Menzel und Dieter Menzel haben offensichtlich viel Spaß.  Die Inszenierung von Jürgen Kramer überzeugt durch die gelungene Mischung aus Slapstick, Wortwitz und feine Beobachtung. So entwickelt sich rasantes Spiel auf engsten Raum.

Eigentlich sind Manni und seine Rosa alles andere als ein erfolgreiches Gangsterpaar. Er überambitioniert, sie ein wenig vertrottelt. Diese Kombination funktioniert seit Laurel und Hardy und ist immer ein Garant für Fehlschläge und deswegen für Lacher.

Gerade haben sie vermeintlich einen großen Coup gelandet. Schicht für Schicht legen Rosa und Manni Patzer um Patzer frei, bis der der große Traum vom sorglosen Leben geplatzt ist. Damit ist der Streit vorprogrammiert. Das Publikum ist ihnen dabei immer einen Schritt voraus und darin besteht der besondere Reiz dieser Art von Komödien. Der Lacher ist immer eine halbe Sekunde vor dem Gag da. Schließlich bereitet es einen eine diebische Freude, anderem beim Zanken zuzusehen.

Aber die Professionalität, die Petra Döring-Menzel und Dienter Menzel dabei an den Tag legen, ist schon bewundernswert. Da wirkt nichts albern, die Aufführung bleibt beruhigend weit vom Klamauk weg. Die Stimmen passen zur Mimik, die Mimik zu den Gesten und die wiederum zur Stimme. Weil die Andeutungen deutlich werden, deswegen sind die Lacher eben schon eine halbe Sekunde vor dem Gag da.

Zum Anfang ist Rosa unten und Manni obenauf.
Foto: B. Menzel
Zum einen sind die beiden die Experten für Beziehungskrisen. Das haben sie schon mit der Zimmerschlacht gezeigt. Zum anderen verfügen sie durchaus über reichlich komödiantisches Talent. Erstes wird schon beim Streit in der Rücken-an-Rücken-Szene im ersten Akt deutlich. Im verbalen Ping-Pong-Verfahren werfen sie sich über die Schulter die Schuldzuweisungen zu. Das ist nicht nur urkomisch sondern auch realitätsnah. Auch nicht-kriminelle Pärchen dürften sich hier wieder erkennen.

Es ist ist ein komödiantisches Talent, dass sich am Wortwitz und den Haarspaltereien eines Loriots orientiert. Obwohl im kriminelle Milieu angesiedelt verzichtet die Inszenierung von Jürgen Kramer auch Zoten. Trotzdem bleiben die die Wortgefechte so lebensnah, dass das Publikum aus der eigenen Erfahrung mitsprechen könnte.

Das Paar-Gefüge ist denkbar einfach: Er der oberschlaue Kleinstadtganove, sie die leicht trottelige Nervensäge. Zusammen sehen sie sich als die Fortführung von Bonnie und Clyde, jenem legendären Verbrecherduo, dass einst die ganzen USA in angst und Schrecken und Faszination versetzte.

Doch mit Kleinigkeiten lässt Rosa seine hochfliegenden Träume immer wieder am Boden zerschellen. Mit vielen Lachern wird so Gangster Manni dekonstruiert ohne dass das Publikum solch einen Begriff wie Dekonstruktion verstehen müsste. Die Eugen und die Olsen-Bande lassen grüßen.

Alles was es zu sehen bekommt, ist eine zwerchfellerschütternde Generalprobe eines Banküberfalls. Manni schreitet voran zur Tat und Rosa ihm hinterher. Es ist klar, dass das nicht gut gehen, dass etwas dazwischen kommen muss. Es ist nur die Frage, was wird es denn dieses Mal sein wird. Das Murmeltier grüsst hier gleich mehrmals täglich und darin liegt der Erfindungsreichtum dieser Inszenierung. Dieser Reichtum verträgt durchaus ein mehr als zweistündige Aufführung.

Aber selbst dort, wo die Inszenierung auf bekannte Versatzstücke baut, wirkt sie frisch und rasant.  Szenen wie das Schuhkarton-Verwechsel-Spiel hat man schon dutzendfach gesehen. Trotzdem fiebert das Publikum mit und fragt sich, wo der Karton mit Geld zum guten Schluss landen wird. Auf jeden Fall nicht dort, wo Manni ihn gern hätte.

Petra Döring-Menzel spielt nicht die Rosa, sie ist es. Da mag man fast glauben. Auf jeden Fall gibt sie diesere Figur jede Menge Unbedarftheit und kleinmädchenhaften Charme. Für die Geduld mit Manni bewundert man sie und fragt sich, wo hier die Grenze zwischen Naivität und Berechnung liegt. Auf alle Fälle gönnt man ihr den Triumph zum Schluss, denn manchmal muss auch Dummheit belohnt werden.

Erst zum Schluss zeigt Manni sein wahren Gesicht.
Foto: B. Menzel
Dieter Menzel ist großartig in der Rolle des Manni. Das Spiel mit der Stimme und die Gestik dazu liegt weit über dem, was man an solch einer Bühne erwartet. Er ist auch für die Akrobatik zuständig und gibt der Inszenierung eine Menge Tempo. Sein Slapstick zum Auftakt beim Erkunden des Verstecks verbindet die Elemente der Pantomime mit dem Moonwalk Michael Jacksons und den Verrenkung eines John Cleese.

Menzel macht den Kleinganoven zum Kleinbürger, der sich deutlich und immer wieder überhebt mit dem, was er sich so vornimmt. Auch wenn er die Pose des Napoleon übt, der große Coup ist mehr als eine Nummer zu groß für ihn. Da ändern auch Planungen im Generalstabs-Gehabe nichts.

Die Nichtigkeit seiner Person kehrt er in Überheblichkeit Rosa gegenüber um. Da werden Assoziationen zu "Ekel Alfred" und "Dusselige Kuh Else" geweckt. Deswegen hat man auch kein Mitleid, als Manni sein Waterloo erlebt.

Das Bühnenbild von Benjamin Menzel ist einfach und überzeugend. Es verzichtet auf Schnörkel und spricht eine eindeutige Sprache. Mit seinen Anregungen denkt sich auch der Komödienbesucher die fehlenden Teile dazu.

Es korrespondiert gut mit dem Licht, das eine tragende Rolle in dieser Aufführung spielt. Sofern es die beengten Verhältnisse es zu lassen, teilt das Licht die Bühne in unterschiedliche Zonen auf und wird selbst zum Handlungsträger. Das beginnt gleich in der ersten Szene mit dem Wanken durch das Dunkel und Rosas anschließendem Lichtflecken-Tanz

Zum lockeren Spiel mit den Versatzstücken der Pop-Kultur gehört auch die Musik. Sie entstammt der goldenen Rififi-Ära der 60-er Jahre und rundet das gelungene Gesamtbild stimmig ab.





Material #1: Das hoftheater bei Facebook
Material #2: Der Spielplan im hoftrheater
Material #3: Die Zimmerschlacht im hoftheater

Material #5: Die Vita von Jürgen Kramer

Material #6: Bonnie & Clyde, das Original





Donnerstag, 9. November 2017

Nur im Ansatz gelungen

Hohe Ansprüche: "1984" am Theater für Niedersachsen 

Big Data ist Big Brother. Unter diesem Leitsatz inszenierte Reiner Müller am Theater für Niedersachsen die Bühnenfassung von Orwells Klassiker "1984". Doch die Premiere am Sonnabend zeigte, dass die eigenen Ansprüche nur teil umgesetzt werden konnten. Der Aktualitätsanspruch fehlt über weite Strecken.Es bleibt die Darstellung eines totalitären Staatsapparates.

Die Anbindung sind die Jetztzeit sind ja da. Das Bühnenbild von Eva Humburg strotz nur so vor Computern und Bildschirmen. Bildschirme als Möbel, als Hocker, als Kletterhilfe, als Lebensinhalt. Die Blaumänner im Hoodie-Look mit modischen Sneakern verweisen auf Jetzt-Eben-Gerade. Das war es dann auch schon erst mal mit der Aktualität. Die Bezüge zu Big Data bleiben vorerst ein Versprechen, das nur zaghaft eingelöst wird.

Total fit und entspannt in die Hass-Woche.
Foto: TfN/Westhoff
Die Inszenierung von Reiner Müller ist eher die Entdeckung der Langsamkeit auf dem Datenhighway. Immer wieder sind dort Lücken im Textfluss, Pause reiht sich an Pause, Auftreten und Abtreten ist die einzige Bewegung und die Protagonisten stehen nur herum. Wenn Parsons zum wiederholten Male von den Heldentaten seines Sohnes berichtet, dann grüßt wenigstens das Murmeltier. Oder ist es der Total Recall?

Das ersten Aufeinandertreffen von Winston und Julia ist sogar noch einer überraschenden Lyrik geprägt. Fast möchte man mit dem Liebespaar träumen. Die junge Mutter an der Wäscheleine wird später noch einmal solch lyrische Momente erzeugen

Das ist völlig anders als erwartet. Es gibt dem Zuschauer aber die Zeit, seinen Assoziationen und Vergleichen freien Lauf zu lassen. Somit kann jeder seine Parallelen zwischen Orwells Neusprech und den aktuelle Sprachverzerrungen durch PC und Gute-Laune-Kultur ziehen.

Erst nach der Pause nimmt die Inszenierung an Fahrt auf und das Geschehen beschleunigt sich.  Müller und Humburg schaffen es bis dahin, erschreckende, eindringliche Bilder zu produzieren. Da ist die Erschießung vor laufender Kamera. Die Gefangenen mit Tüte auf dem Kopf rufen Erinnerungen an Abu Graib wach. Als das Kind mit dem Finger die Ränge und das Parkett abfährt und das Publikum warn "Big Brother is watching you", da stockt kurz der Atem.

Denunziantentum ist keine Altersfrage und man muss auch vor denen in Acht nehmen, die man bisher für unschuldig und schutzlos hielt. Das System der Bespitzelung kehr somit die Verhältnisse um.  Der Kleine und Schwache muss sich nur an den Großen Bruder hängen.

Gut herausgearbeitet sind auch die Gruppenprozesse in der Hass-Woche. Auf der Bühne geschieht dies analog, doch es wird klar, dass ähnliche Prozesse in der digitalen Welt tagtäglich so ablaufen. In der Gruppe ist der Einzelne viel leichter zu manipulieren.

Nach der Pause nimmt das Tempo zu. Das harte Regime wird immer wieder mit den Bildern der vermeintlichen Idylle in Charringtons Hinterhof kontrastiert. Die Vergangenheit wird zum Zukunftsentwurf weil die Gegenwart so grausig. Doch die Idylle ist inszeniert und bei Orwell steckt jede Menge Matrix drin.

Big Brother is watching you.
Foto: TfN/Westhoff
Was aber bleibt, das sind die schockierende Darstellung  der Folter und der erneute Anklang an die bilder aus Abu Graib.

Moritz Koch wirkt in der Rolle der Hauptfigur Winston seltsam gehemmt. Seine Gestik ist an diesem Abend steif, gleich gilt für die Sprache. Er ist nicht in der Lage, eine Beziehung zu den anderen Darstellern herzustellen. Das ist wohl Absicht, sollte als diese aber besser gekennzeichnet werden.

Martin Schwartengräber in der Rolle des Mitläufers Parsons wirkt da echter, echter als begeisteter Vater eines Jungdenuzianten und echter als Verratener und als Delinquent. Totalitäre Systeme zereißen auch Banden, die man für natürlich hielt. Der Eltern-Kind-Verhältnis wird umgekehrt.

 In der Rolle der Julia bringt Katharina Wilberg einen Hauch Menschlichkeit in das Stück ein. Sie macht glaubhaft, das Julia im Gegensatz zu Winston eher aus Eigeninteresse rebelliert. Den hehren Zielen Winstons setzt sie








TfN #1: Der Spielplan
TfN #2: Das Stück

Orwell #1: Soldat im spanischen Bürgerkrieg
Orwell #2: Das Buch
Orwell #3: Die Bühnenfassung



Dienstag, 24. Oktober 2017

Von Menschenfeinden und Hundehassern

"Die Hundegrenze" ist eine Dokumentation mit Theatermitteln

Eine Menschenleben zählte an der innerdeutschen Grenze nicht viel und ein Hundeleben schon gar nicht. Dies zu zeigen, das gelingt Christian Georg Fuchs in seiner Inszenierung von "Die Hundegrenze" auf beklemmende Weise. Am Sonntag war Premiere im Theater unterm Dach

Ausgangspunkt der Aufführung ist die gleichnamige Reportage von Marie-Luise Scherer. 1994 widmete sie sich im Spiegel auf beeindruckende Weise einem Kapitel der deutschen Trennung, das bis dahin weitestgehend vergessen war. Es ging um die sogenannten Trassenhunde, um jene Vierbeiner, die einst die Grenze bewachten. Angekettet und isoliert waren sie dem Wetter ausgeliefert. In einem unmenschlichen System standen die Tiere auf der untersten Stufe.

Die emotionslose und klare Sprache, die die Reportage prägt, verdeutlicht die Unmenschlichkeit, das Fehlen jeglicher Empathie. Fuchs orientiert sich an eben diesem Stil. Er über nimmt ganze Passagen aus der Reportage. Sein Vortrag und der Vortrag von Ronald Mernit ist ebenso emotionslos und vor allem bürokratisch kühl. Nur selten heben sie ihre Stimmen im Stakkato, um ein Detail zu betonen.

Schween findet Gefallen an dem Mischling Alf. 
Alle Fotos: TNLos!
Gerade dieser Bürokraten-Sprech und Kasernenhofton sind es, die einem die Kehl zuschnüren. Sie machen dieses Stück so bedrückend. Fuchs gelingt es, die Perfektion, mit der die Westgrenze der DDR gesichert war, in all ihrer Perversität darzustellen.  Dagegen ist das Bellen der Schauspieler, wenn sie in die Rolle der Hunde verfallen, nervenzertrümmernd. Eine eindringliche Darstellung der tierischen Not.

Die Inszenierung ist einer der seltenen Glücksfälle in denen ein Thema ohne Verlust oder Verzerrung  das Genre und die Darstellungsform wechsel. Der Sprechtext stammt durchweg von Marie-Luise Scherer. Christian Georg Fuchs ist es gelungen, die kalte Atmosphäre der Reportage adäquat einzufangen und umzusetzen. Kaltschnäuzigkeit sozusagen.

Schon das Bühnenbild spricht eine eindeutige Sprache und die Sache ist klar, noch bevor die beiden Darsteller die Studiobühne betreten. Ein langer Tresen trennt Zuschauerraum von der Spielfläche. Oben auf dem Tresen werden mit den Mitteln des Modellbaus die Grenzanlagen simuliert. Selbst der härteste aller Kritiker versteht den Bau sofort, obwohl er lange nach dem Fall der Mauer geboren wurde.

Das optische Gruseln kann man noch steigern. Christian Fuchs und Ronald Mernitz werden hier ein Modell jener Trassen installieren, an denen die Tausende von Hunde im Dienste der Grenzsicherung verkümmerten. Sie ersparen dem Publikum nichts. Manche Dinge sind so abstrus, dass sie gezeigt werden müssen weil die Vorstellungskraft allein nicht ausreicht. In diesem Detail kristallisiert  die ganze Monstrosität der Grenze.

Fuchs und Mernitz konzentrieren sich auf die wenige Personen. Damit gelingt es ihnen, das System von der Entstehung bis zum Ende darzustellen und zugleich verschärfen sie damit die Aussagen über die Perfektionierung. Wo es keine Menschlichkeit gibt, ist erst recht kein Platz für Tierliebe.

Moldt komponiert seine Sinfonie der Hundearten.
Foto: TNLos!
Sie zeigen die Pole, die sich diametral gegenüber stehen. Da ist der Veterinäringenieur Schween, dessen Aufgabe es ist, für den Nachschub an Hunden zu sorgen und sein Bedarf ist groß. Aber sein Netzwerk funktioniert.

Da ist der Züchter Pandosch, der mit Schween auch ein System an Gefälligkeiten unterhält.  zu sorgen. Da ist der Grenzaufklärer und Berufssoldat Moldt, der ab 1966 das System der Trassenhunde entwarf und die Bestückung mit unterschiedlichen Hundetypen als Form der Komposition sah. Dazu gesellt sich ein Formular, dass alle Eigenschaften der Hunde normiert. Selbst das Grauen folgt eine gewissen Ästhetik.

Dann gibt es noch den Grenzaufklärer Schoschies und Wilhelm Tews. Zwischen dem Berufssoldaten und dem Grenzbewohner entwickelt sich ein inniges Verhältnis und auch gegenseitige Abhängigkeiten. Für Tews kann Schoschies mal fünfe gerade sein lassen. Es menschelt.

Mit einfachen Mittel schaffen Fuchs und Mernitz es, ein komplexes Gefüge darzustellen. So dienen  zwei Schnapsgläser als Symbole der Verbrüderung und Pilze stehen für die gemeinsamen Schummeleien. Diese Momente der Humanität sind die literarischen Augenblicke der Inszenierung und kontrastieren gekonnt die Strenge des Apparates. Ausführlich stellen Fuchs und Mernitz das Elend der Hunde dar, die den Unbillen des Wetters, der winterlichen Kälte und der sommerlichen Hitze schuldlos ausgesetzt sind

Wenn Tews aus Schoschies trifft, dann menschelt es.
Foto: TNLos!
Emotionaler Gipfle ist die Katastrophe vom Lankower See. Linientreue verurteilt hier sieben Hunde zum Tod durch Ertrinken. Doch Schoschies setzt sein Leben aufs Spiel, um wenigstens einen von ihnen zu retten. Mit der Aussage "Menschlichkeit ist doch möglich gewesen" endet das Stück folgerichtig hier.

Der Anteil  des Figurentheaters ist geringer als angekündigt. Lediglich wenn die Hunde in den Fokus treten, bedienen sich Fuchs und Mernitz der Puppen und Masken. Das überrascht auf den ersten Blick, macht aber deutlich, dass Deutschland nicht durch eine Hundegrenze getrennt wurde. Menschen haben das Ding gebaut.

Einzig mit der Altersempfehlung kann man hadern. Freigeben ist das Stück ab 14 Jahre, aber nicht jeder Teenager ist wohl in der Lage, das Gezeigte richtig einzuordnen. Aber Gekicher ist ein Indikator dafür, dass auch manch Erwachsene überfordert sind mit der Monstrosität des Gezeigten.





Theater Nordhausen #1: Der Spielplan
Theater Nordhausen #2: Das Stück

Material #1: Die Reportage im Spiegel

Partner #1: Studio 44 - Die Website
Partner #2: Grenzlandmuseum Eichsfeld

Radio Enno #1: O-Ton, Interview und Besprechung











Sonntag, 22. Oktober 2017

Ballett mit viel Musical-Appeal

Premiere von Romeo und Julia am Theater Nordhausen

Was Tanztheater anbelangt, da ist Nordhausen derzeit der Hotspot in Thüringen und Mitteldeutschland. Das hat die Premiere von "Romeo und Julia" am Freitagabend mal wieder bewiesen. Ivan Alboresi legt eine Choreographie vor, die durch Vielfalt und Tiefe überzeugt. Das überraschend junge Publikum war begeistert, zu Recht.

Die Werk des Neo-Romantiker Prokofjew zwichnet sich durch eine umfangreiche Klangsprache und chromatische Wendungen aus. Ähnlich umfangreich ist die Formsprache und Ausdruckstiefe einer Alboresischen Choreographie. Damit passen die Musik des Russen und Nordhausens Ballettchef so gut zueinander.

Doch der Auftakt verläuft ohne Musik und ist deswegen so eindrucksvoll. Als Chor steht die  Tanzkompagnie auf der blanken Bühnen. Aus dem Off tönen Shakespeares Zeilen von überlassen. Ganz ohne Musik und zu dem Zeilen Shakespeares von den zwei Häusern, die einander im Hass zugewandt sind. Die Choreographie beginnt und die Tänzerinnen und Tänzer umschlingen einander und stoßen sich ab und umschlingen wieder einander.

Mercutio ist der Star der jungen Damen.
Alle Fotos: András Dobi
Die Themes sind damit gesetzt und die erste Marke ist auch gesetzt. Es wird klar, dass das Primat dem Tanz gehört und nicht der Musik.

Die Bühne wird dunkel und die Musik setzt ein. Als die Ouvertüre verklungen ist, ist die eben noch blanke Bühne völlig verwandelt. Drei Elemente simulieren eine norditalienische Piazza. Die Gebäudeteile umringen die Tanzfläche und wecken Assoziationen an eine Arena.

Die Clique der Montagues hat den Raum besetzt, das ist ihr Revier und das ist jugendliches Gehabe seit mehr als 400 Jahren. Das Shakespeare-Zitat zum Start war nur eine Fährte. Diese Inszenierung orientiert sich in weiten Teilen an der West Side Story orientiert. Ivan Alboresi macht da auch keinen Hehl raus.

Die Mischung von klassischen Elementen und Modern Dance ist ein Kennzeichen des Nordhäuser Ballettchef. Damit hat er sich und seiner Kompagnie eine enorme Formenvielfalt und Ausdrucksstärke erschlossen. Er ist schon auf dem Weg dahin, stilbildend zu wirken.

In dieser Choreographie geht er noch einen Schritt weit. Alboresi gibt eine deutliche Portion Jazz-Dance hinzu. Damit erweitert es den Ausdrucksraum noch einmal deutlich. Sein Romeo und seine Julia haben reichlich Musical-Appeal.

Diese Inszenierung versprüht jede Mengen Jugendlichkeit und auch pubertäres Gehabe. Der High Five gehört ebenso dazu wie testosterongeschwängerte Gockel und zu Tode betrübte Dauergrübler. Alboresi schafft es spielend und spielerisch nachzuweisen, dass das Romeo & Julia-Thema existenziell ist. Das menschliche Verhalten ist geblieben, nur die Umstände ändern sich.

Julia wird wie eine Trophäe zur Schau gestellt.
Alle Fotos: András Dobi
Das Spiel mit den Versatzstücken der Pop-Kultur ist überraschend und erfrischend. Zweimal wird der Kampf der Montagues und der Capulets verwandelt sich in eine Keiler aus dem Hause "Bud Spencer und Terence Hill". Auch die Damen wird hier ordentlich zulangen Unterbrochen wird die Hauerei von zwei Slow Motion-Sequenzen mit einer ordentlichen Portion Matrix. Großartig und das Publikum versteht die Verweise. Deswegen antwortet es immer wieder mit Szenen-Applaus. Das ist die Interaktivität des Liveerlebnis.

Zumal die Kostüme von Anja Schulz-Hentrich ganz der Jetzt-Zeit verhaftet sind und eine eindeutige Sprache sprechen. Damit liefert sie einen wichtigen Baustein in diesem gelungenen Gesamtkonzept.

Überhaupt greift Alboresi auf filmische Mittel zurück. Einzelne Szenen sind mit einem harten Schnitt getrennt. Keilerei - Cut - Maskenball. Der Vorhang hebt sich und es ist vorbei mit der West Side Story. Barocke Opulenz bestimmt das Bühnenbild. Mit jeder Menge Gold stellen die Capulets ihren Reichtum zur Schau. Zudem soll Töchterchen Julia mit Graf Paris verlobt werden.

Hier greift Alboresi verstärkt auf klassische Elemente zurück, um die Verkrustung des höfischen Lebens zu verdeutlichen. Viel Spitze und Hebefiguren und die Arme immer weit oben. In dem schwarz-goldenen Spektakel wirkt Julia wie ein Störkörper, wie eine Meteorit, der in diesem Planetensystem bald verglühen wird.

Großartig tanzt Konstantina Chatzistavrou die Ablehnung ihres Verlobten. Immere wieder taucht sie ab und entwindet  sich dem Zugriff des Prinzen und ihrer Mutter, um dann doch zu scheitern. Genauso beeindruckend tanzt hier Gabriela Finandi die Lady Capulet mit breitem Kreuz und dominanter Haltung. Mit welcher Beharrlichkeit sie die Tochter dem Prinzen zuführt, das liegt irgendwo zwischen Viehmarkt und Prostitution. Aus dem Kontrast zum höfischen Gehabe ergibt sich ein umfassendes Bild einer Gesellschaft, in der der Einzelne in ein festes Gefüge eingepasst wird.

Den Massenszenen im Musical-Manier stehen die intimen Pas de Deux-Szenen der Titelhelden gegenüber. Kraft und Dynamikt wir hier ersetzt durch Poesie und Leichtigkeit. Hier setzt Alboresi wieder auf die Klassik und  Konstantina Chatzistavrou und Joseph Caldo ergänzen sich wunderbar.

Momente voller Lyrik und Poesie. 
Alle Fotos: András Dobi
Der heimliche Star in diesem Abend ist aber Ruan Martin in der Rolle des Mercutio. Mit enormer Dynamik entwickelt er eine beeindruckende Bühnenpräsenz und beherrscht die Tanzfläche eindeutig. Das Konzept aus Klassik, Modern und Jazz setzt er in eindeutiger Weise. Deswegen gehört sein Taumeln in den Tod verlangt ein Höchstmaß an Körperbeherrschung und gehört zu den beeindruckensten Momenten eines an Höhepunkten reichen Abend.

Dieser Tod stellt einen deutlichen Cut dar. Die bisher so helle und optimistische Inszenierung ändert ihren Ton und wird von dunklen Bildern dominiert. Das Tempo nimmt deutlich zu und die schräge Ebene neigt noch einmal Richtung Abgrund. Mit den Totschlag des Tybalts verliert Romeo seine Unschuld und sein Ableben ist damit fast schon zwangsläufig.   

Die Bühnenbilder von Ronald Winter sind das optische Äquivalenz zur Formenvielfalt Alboresis. Der Wechsel zum Maskenball der Capulets sorgt für "Ooohh"-Momente, aber ansonsten sind die Änderungen nur minimal, aber deutlich. Mit wenigen Variationen erzeugt Winter deutliche Unterschiede im Eindruck. Großartig sind die Szenen, in denen das Bühnenbild selbst Teil der Choreographie wird.

Zwar steht der Abend eindeutig im Zeichen der Tänzerinnen und Tänzer, dennoch verschwindet das Loh-Orchester unter der Leitung von Henning Ehlert nicht hinter der Kompagnie. Das Ensemble schafft es, die vielen chromatischen Wendungen und überraschenden Klänge zu transportieren  und dabei doch transparent zu bleiben. Das Loh-Orchester macht sowohl die Lyrik der Julia als auch die Dominanz der Capulets in gleicher Weise erfahrbar.

Mit dieser Inszenierung ist Ivan Alboresi mal wieder ein großer Wurf gelungen. Er versteht es wunderbar, theoretische Überlegungen zur Wertigkeit unterschiedlicher Tanztraditionen in eine leichte und beeindruckende Choreographie umzusetzen. Unterstützt wird dies durch die vielen Bausteine, die ein geschlossenes Konzept ergeben ohne kopflastig zu sein.






Theater Nordhausen #1: Der Spielplan
Theater Nordhausen #2: Romeo und Julia als Ballett 2013

Sergej Prokofjew #1: Die Biographie
Sergei Prokofjew #2: Romeo und Julia

Enzyklopädie #1: Das Thema in anderen Auflösungen






Dienstag, 17. Oktober 2017

Nur bedingt tauglich

Das DT belebt Brechts Puntila und dessen Knecht Matti

In einer Friede-Freude-Eierkuchen-Ära unbequeme Fragen zu stellen, die Wohlfühl-Politik mit dem Thema Macht und Herrschaft zu kontern, ist grundsätzlich löblich. Das war der Ansatz von Christoph Mehler. Doch seine Inszenierung von "Herr Puntila und sein Knecht Matti" am Deutschen Theater in Göttingen erfüllt die selbst gesteckten Ziele nur zum Teil. Was ein Kommentar zur Zeit sein könnte, gerät über weite Strecken zur historisierenden Schaustellung.

Als das Licht angeht, geht der Blick ins Leere. Die Bühne ist komplett abgeräumt und es das Bühnenhaus ist nackt. In der Ferne baut sich der Chor auf und eine Stimme schüttelreimt den Anfang. Hier ist die Aufführung Brechtischer als Original. Die zahlreichen Nebenrollen hat Christoph Mehler in einem Chor zusammengefasst, der in vielen Stücken Brechts eine große, kommentierende und reflektierende Rolle spielt.

Noch ist der Herr bei Sinnen und bestimmt nicht
nüchtern.  Foto: Georg Pauly
Doch der Puntila-Chor hat eher den Charakter der manipulierbaren und gesichtslosen Masse. Und er ist das Werkzeug der Mächtigen, nicht zu übersehen  bei der Vertreibung des Attachées. Zumindest die Besetzung hätte dem Autor wohl gefallen. Alle 18 Chormitglieder sind Laiendarsteller.

Die Reduzierung auf die vier Personen Gutsherr, Tochter, Attaché und Chauffeur ermöglicht zwar die Konzentration auf die vier Handlungsträger, nimmt aber viele Reflexionsmöglichkeiten. Die Inszenierung gerät fast zur One-Man-Show und zum Monolog. Nur an wenigen Stellen wie der Badehaus-Szene oder der Prüfung der Eva wird die Dominanz der Titelfigur gebrochen. Aber der Beherrscher ist nicht mehr Elaborat einer sozialen Schicht und Ausstellungsstück eines gesellschaftlichen Umfeld sondern nur Produkt seiner selbst. Dadurch geht viel Brecht'sche Gesellschaftsanalyse verloren.

Verbunden ist diese Reduzierung auch mit Brüchen im Erzählstrang. Manchmal holpert es deutlich,  der Kontext geht verloren und nicht nur das Publikum wirkt orientierungslos. Hier sollte dramaturgisch noch einmal feinjustiert werden.

Auf jeden Fall ist der Herr Puntila Gabriel von Berlepsch auf den Leib geschrieben. Er hat eine diebische Freude an dieser Rolle und gehört damit zu den Höhepunkten in dieser Aufführung. Sein Puntila ist angelegt irgendwo zwischen Nosferatu und Charles Montgomery Burns. Richtig, der Chef von Homer Simpson.

Da sind sie alle schön versammelt.
Foto: Georg Pauly
Leider ist dies die einzige Anleihe an die Jetztzeit. Optisch steckt der Rest der Inszenierung irgendwo zwischen Klassizismus und 1940er Jahre fest. Mehr Mut zur Aktualität hätte der Aufführung durchaus gut getan.

Volker Muthmann  bekommt in der Rolle des Matti nur wenig Gelegenheiten, sein Potential auszuschöpfen. Leider gerät seine große Szene, die Examierung der Eva, zu einer Orgie häuslicher Gewalt. Die kommt unmotiviert daher und liefert doch die prägnanteste Aussage diese Inszenierung. Macht basiert auf Gewalt und wer beherrscht wird, der möchte auch mal unterdrücken und sei es mit Gewalt.

Dieses System ist so allgegenwärtig und umfassend, dass man sich dem nicht entziehen kann. Deswegen bleibt Matti in dieser Inszenierung entgegen der Vorlage seinem Herren treu und verharrt im Kreislauf aus Suff, Herrschaft und Gewalt.

Die einzige Figur, zu der das Publikum eine emotionale Bindung entwickelt ist Puntilas Tochter Eva. Doch man möchte fast schon Mitleid mit Dorothée Neff in dieser Rolle haben. Schnell mutiert sie von der verzogenen Nervensäge zur echten Person und damit zur Verfügungsmasse ihres Vaters. Der reicht sie herum wie einen Strauß weißer Rosen. Letztendlich ist sie das Opfer männlicher Gewalt und ist damit die große Verliererin. Aber Neff macht diesen Prozess glaubwürdig und erfahrbar.

Bei aller Sympathie für den Versuch, die Frage nach Herrschaft mal wieder zu stellen, bleibt in dieser Inszenierung ein durchwachsener Gesamteindruck und das Gefühl, dass hier irgendwann mal der Faden verloren ging.








DT Göttingen #1: Der Spielplan
DT Göttingen #2: Die Inszenierung

Brecht #1: Leben im Exil
Brecht #2: Das Stück







Montag, 16. Oktober 2017

Eine Reise zurück in die Gegenwart

Philippe Djian liest beim Göttinger Literaturherbst

Einen Roman mit einer Vergewaltigung zu beginnen, so etwas traut sich nur Philippe Djian. Am Sonntag stellte er bei Göttinger Literaturherbst seinen Roman "Oh ..". Mit seiner Reise zurück in die Gegenwart beweist er, dass er immer noch zu den Autoren gehört, die wirklich etwas zu sagen haben.

Die zentrale Figur in einem vertüddelten Geflecht ist Michèle, eine Frau Mitte 50. Die Mitinhaberin einer Filmproduktionsfirma ist geschieden, Mutter eines Sohnes auf der Suche nach sich, hat ein Verhältnis mit Robert, dem Mann ihrer Geschäftspartnerin. Seit Jahrzehnten weigert sie sich, ihren Vater im Gefängnis zu besuchen, der einst ein solch ungeheuerliches Verbrechen begangen hat, dass Michèle und ihre Mutter lange Jahre nicht nur der sozialen Ächtung ausgeliefert waren, sondern auch im sozialen Koma lagen. In der Vorweihnachtszeit wird sie von ihrem Nachbarn vergewaltigt. Erst allmählich begreift sie, was passiert ist, und Schicht für Schicht schält sie Vergangenheit und Gegenwart frei.

Das ist die Ausgangslage in diesem Roman, der in Frankreich immerhin mit dem Prix Interallié belohnt wurde. Unter dem Namen "Elle" wurde das Werk mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle verfilmt, doch damit hat der Autor so seine Schwierigkeiten.

Die Filmpremiere liegt schon drei Jahre zurück, die Buchpremiere immerhin schon fünf und der Prix Interallié ist mitnichten eine Wald- und Wiesen-Auszeichnung. Die deutsche Erstausgabe kam seinerzeit fast geräuschlos in die Regale, die Taschenbuchausgabe folgte erst in diesem Jahr. Vielleicht liegt es daran, dass Autoren im deutschsprachigen Raum nur sehr schwer einer Schublade entfliehen können, in die sie einst gesteckt worden. Selbst dann klebt ihnen immer noch das Etikett auf der Stirn.

Das Dreigestirn: Der Autor, die Dozentin und die
Vorleserin. Foto: Kügler
Djian wird in Deutschland immer noch in die Ecke "Jugendlicher Überschwang und literarischer Roadmovie" gesteckt. Dabei liegt Zorg-Triologie schon dreißig Jahre und 25 andere Bücher zurück und außerdem geht der Mann auf die 70 zu. Damit ist er der letzte lebende Vertreter einer Generation, die in der Mitte des 20. Jahrhunderts verwurzelt ist. Das Erbe der Beatniks hat er mit "Oh ..." aber in das 21. Jahrhundert hinübergetragen.

Die permanente Unterschätzung drückt auch die Unfähigkeit der Kritik aus, sich auch veränderte Situationen, auf veränderte Akteure einzustellen. Denn das alte Etikett passt nicht mehr auf diese Geschichte. Um es ganz einfach zu sagen: Djian ist gereift und öffnet sich und seinen Leserinnen und Leser neue Perspektiven. Da sollte sich auch die Kritik umstellen.

Es ist eine Mischung aus bewährt, erwartet und neu, die diese Lesung zur Überraschung macht. Sage und schreibe 17 Jahre ist Djians letztet Auftritt beim Göttinger Literaturherbst her. Doch der Mann hat deutlich gewonnen. Heißer Herbst war damals vor allem geprägt von den Verlustängsten eines alten Mannes.

"Oh .." ändert die Perspektive. Eine Frau wird zur Ich-Erzählerin. Fast schon revolutionär für einen Autor, der vielen als Dino-Saurier des Machotums gilt. Später wird Djian im Gespräch zugeben, dass er diese Perspektive bewusst gewählt habe, gerade weil sie lückenhaft bleiben muss. Als Mann könne er gar nicht wissen, was eine Vergewaltigung in allen Aspekten bedeutet.

Es entspinnt sich eine gewisse Parallelität an diesem Abend. So wird Michèle mit der häppchenweisen Verarbeitung der jüngsten Gewalterfahrung das Desaster ihrer Kindheit bewältigt, sorgt der Dialog zwischen Autor und Romanistin dafür, dass sich dem Publikum die vielfachen Ebenen von "Oh ..." häppchenweise erschließen.

Erst einen Text vortragen und dann darüber reden ist sicherlich für manche ein antiquiertes aber bestimmt kein überholtes Konzept. Selbst nicht bei Autoren, die sich einst um keine Konventionen kümmerten. Hier sorgt es dafür, dass man nicht von der Monstrosität der Geschichte überwältigt wird. Denn Michèle wird ein Verhältnis mit ihrem Peiniger eingehen.

Nein, ein Thriller sein dieses Buch nicht, betont Djian im Gespräch. Es sei eher ein Roman noir. Ja, das trifft es. Beim Lesen entstehen Bilder in schwarzweiß, die einem Film von Truffaut, Melville oder Goddard gleichen.  Was geblieben ist, ist diese lakonische Erzählweise, die reduzierte Sprache, die aber am besten geeignet ist, das darzustellen, was eine drastische Realität sein könnte.

Der Dichter hat wohl selbst
Ehrfurcht vor seinem Werk.

  Foto: Kügler
Dort, wo andere viele verbale Ranken um banale Dinge herumschmieden, lässt Djian mit wenigen Worte eine Szenerie entstehen, die man für wirklich hält und zwar bis in die verletzten Seelen seiner Protagonisten.

Der Djian-Sound ist immer noch geprägt von kurzen Sätzen, die manchmal bis ins Mark treffen und regelmäßig in ein Stakkato übergehen. Er ist ein Meister der Synkope, der Betonung außerhalb des Erwarteten. Das erzeugt die Spannung außerhalb der Geschichte.

Ein Satz und du bist mittendrin. Djian ist immer noch ein Magier des Start. Von Anfang an zieht er in den Bann oder eben nicht. Das sei auch seine Arbeitsweise. Wenn er anfange zu schreiben, dann sei dort eine Idee und der Rest komme später hinzu, erläutert der Autor. Wohl deswegen wirken Djian-Romane nicht durchkonstruiert sondern lebendig

Wie man auf diese Weise jedes Jahr einen Roman fertig kriegt, das Rezept verrät er aber nicht. Es drängt sich aber der Verdacht auf, dass Jüngere sich bei diesem Stil und dieser Arbeitsweise akuter Infarktgefahr ausliefert würden.

Aber eins verrät er noch, den Mut zur Lücke. Dabei geht nicht nur um das bereits erwähnte Eingeständnis des männlichen Unverständnis einer Vergewaltigung. Ganz bewusst lasse er Dinge aus, erzähle nicht alles bis zum Ende. In diese Lücken stößt dann die Fantasie des  Publikums vor. Djian nimmt seine Leser für voll und überlässt ihnen den letzten Schritt bei der Rezeption, anstatt alles vorzukauen. Dafür müssten die Erwachsenen ihm unendlich dankbar sein.

Denn er sei  nicht an Geschichten, nicht an Storys interessiert, die seien zweitrangig, erklärt der Meister. Entscheidend sei die Darstellung. Aus dem Rockstar des Literaturbetriebs ist der Erhabene, der Formverliebte geworden. Das kann man glauben, muss man aber nicht.  Auf jeden Fall ist der Franzose in diesem Jahr zum Ehrengast der Frankfurter Buchmesse geworden. Das wäre vor 30 Jahren undenkbar gewesen. Es wird nicht ganz klar, wer hier mehr an der Legendenbildung beteiligt ist. Literaturbetrieb als Integrationsmodell. Das enfant terrible ist  zum Monument geworden, aber nicht versteinert. Trotzdem gleitet der Abend gelegentlich in die Huldigung ab.

Um dies zu untermauern schiebt Djian hinterher, das der Kern von "Oh ..." nicht die Vergewaltigung sei sondern die Störung des Lebens, das invasive Ereignis und dessen Folgen. Die Kontrolle über das Leben zurückzugewinnen das stehe im Vordergrund. Wichtig für seine Figur der Michèle sei auch, ob man noch in der Lage sei etwas Verrücktes zu tun. Dabei gerate das Alter in den Hintergrund, bemüht er ein Stereotyp.

Je länger der Abend dauert, desto eloquenter wird Djian. Der angry old man mutiert  immer mehr zum geistreichen Plauderer. Das Publikum profitiert davon, denn es öffnen sich immer Tür zum Verständnis dieses Buches

Nach anderthalb Stunden bleiben keine Fragen mehr offen und in die Lücken, die dann doch bleiben, kann die Fantasie der Zuhörerinnen und Zuhörer stoßen. Auf jeden Fall bleibt die Erkenntnis, dass sich Djian neu erfunden hat und damit noch wertvoller ist als je zuvor.





Göttinger Literaturherbst #1: Das Programm

Philippe Djian #1: Die Biographie
Philippe Djian #2: Das Buch





Dienstag, 3. Oktober 2017

Ein leichtes Spiel für Jago

"Otello" am Theater Nordhausen zeigt Studie eines rasanten Verfalls

Zum 100. Geburtstag hat sich das Theater mit Verdis "Otello" mit einer Ausstattungsoper erster Güte selbst beschert. Die Inszenierung von Anette Leistenschneider pflegt die traditionelle Aufführungspraxis und erfreut die Freunde werkimmanenter Interpretationen. Unter der Leitung von Michael Helmrath zeigt das Loh-Orchester eine begeisternde Leistung, die alle Anforderungen übererfüllt.

Musikalisch packt Verdi in diesem Spätwerk alles aus. Die Arbeit an seine Wunschprojekt beginnt er 13 Jahre  nach der Uraufführung der Aida. Das liegt auch daran, dass Arrigo Boito ein Liebretto vorlegt, dass Shakespeares Werk noch einmal straffte. Konzeptionell bedeutet diese Oper für Verdi einen weiteren Schritt nach vorn. Mit Otello wendet sich der Komponist endgültig von der Nummernoper ab und legt ein Stück aus einem Guss vor, durchkomponiert von der ersten Note bis zum traurigen Ende

Die Ouvertüre ist klanggewaltig. Sie lässt einen gewaltigen Sturm über das Publikum hinwegbrausen, begleitet vom Chor. Das Loh-Orchester nutzt gleich die erste Chance, um die eigene Klasse unter der Leitung von Michael Helmrath unter Beweis zu stellen.

Orchester und Chor harmonieren hier wunderbar. Jeder lässt den anderen dem Raum, den er benötigt. Das war in Nordhausen nicht immer so und somit ist die neue Harmonie ein weiteres Indiz für die positive Entwicklung, die das Orchester unter Helmrath gemacht hat.

Das Gift der Verleumdung: Jago hat
Otello fest in der Hand. Foto: TNLos! 
Überhaupt kommt hat Verdi dem Chor in diesem Werk eine tragende Rolle zugeschrieben. Markus Popp ist es gelungen, Opernchor, Extrachor und Kinderchor zu einer Einheit zusammenzufügen und  somit eben jenen hohen Anforderungen mehr als gerecht zu werden.

Wie schon an anderer Stelle mehrfach ausgeführt, dürfte auch dieses Stück nicht "Otello" heißen, sondern "Jago". Der Enttäuschte wird zum Intriganten, zum Strippenzieher und Lenker. Die Inszenierung von Anette Leistenschneider bleibt dieser Sichtweise treu und liefert damit ein feines Psychogramm des Perfiden und des Abhängigen. Es ist eine Studie darüber, wie schnell Hierarchien kippen können. Mit Krum Galabow hat sie dafür die passende Besetzung gefunden.

Der Bariton bietet eine erstaunliche Spannweite. Er beherrscht die leisen, schmeichelnden Passagen ebenso wie den Zorn in der "Credo in un Dio"-Arie. An Schluss des zweiten Aktes ist er die treibende Kraft im "Si, pel ciel marmoreo giuro!"-Arie.

Auch darstellerisch weiß Galabow als Jago zu überzeugen. So hat er Michael Austin in der Titelrolle einiges voraus. Dessen Mimik bewegt sich meist im Bereich zorniger junger Mann. In der Rolle es Otello hat Verdi den "tenore di grazia" mit dem "tenore di forza" und dem Spintotenor zusammengefasst. Leider legen Leistenschneider und Austin den Schwerpunkt aber eindeutig auf den Heldentenor. Das nimmt der Inszenierung einige Entwicklungsmöglichkeiten. Damit ist der dramaturgische Weg vorgezeichnet. Der seelische Verfall des einstigen Helden findet in wenigen Sekunden statt, in zu wenigen.

Eine echte Entdeckung dieser Inszenierung ist Kyounghan Seo in der Rolle des Cassio. Sein Tenor ist jugendlich und forciert und zeigt doch Lyrik an den Stellen, an denen sie erforderlich ist. Dazu kommt ein Spiel, das durchaus schon als ausgereift gelten kann.

Hätte Desdemona einst so gesungen, wie Zinzi Frohwein in dieser Aufführung, da wäre ihr das finstere Schicksal erspart geblieben. Wer beim "Piangea cantando nell'emma landa"-Solo nicht dahin schmilzt, der hat kein Herz und sollte mit Jago eine Selbsthifegruppe eröffnen.

Hier wird gleich gestorben.
Foto: TNLos!
Wie in der bisherigen Adaption lebt auch diese Inszenierung von Kontrast zwischen dem absoluten Bösem verkörpert in Jago und reinen Unschuld der Desdemona. Madonnenhaft gleitet Frohwein über die Bühne, allgegenwärtig steht die Figur am rechten Bühnenrand und für alle, die es immer noch nicht verstanden haben, lassen Verdi und Leistenschneider eine Mutter-Prozession über die Bühne ziehen.

Aber diese Aufführung eröffnet auch eine neue Perspektive. Der Konflikt zwischen dem tobsüchtigem Otello und seiner ahnungslosen Gattin ist ein Paradebeispiel häuslicher Gewalt. Leider  wird dieser Aspekt nicht gänzlich ausgearbeitet.

Die Kostüme von Anja Schulz-Hentrich tragen dazu bei. Wallende Gewänder wie man sie sich vor 100 Jahren für die aufkeimende Neuzeit vorgestellt. Die Männer in Leder gekleidet, die Dame des Hauses in Samt und Brokat. Fast könnte man denken, das Theater Nordhausen hat sich zum 100. Geburtstag eine Oper geschenkt, die man auch zur Eröffnung gern gesehen hätte.

Schade, etwas mehr Mut zur Jetztzeit hätte die Inszenierung aus dem Historismus geholfen. Aber auf jeden Fall bleibt eine Inszenierung, die mit Farbenpracht und eindrucksvollen Massenszenen die Freunde traditioneller Aufführungen mehr als zufrieden stellt.




Theater Nordhausen #1: Der Spielplan
Theater Nordhausen #2: Die Inszenierung


Verdi #1: Die Biografie
Verdi #2: Otello - Die Oper