Samstag, 20. Februar 2016

Entspannt in den Untergang

Matthias Kaschig inszeniert einen großartigen Romulus am Deutschen Theater

Der Zeitpunkt hätte nicht besser sein können. Mitten in der Dauerkrise der europäischen Politik bringt Matthias Kaschig “Romulus der Große” auf die Bühne des Deutschen Theaters in Göttingen. Seine Inszenierung zeigt auf erfrischende Weise die gesamte Tiefe in Dürrenmatts Groteske um den letzten Kaiser Roms. Es gab viel zu lachen und das Publikum zeigte sich bei der Premiere am Samstag begeistert.

Das Absurde Theater war das Metier von Friedrich Dürrenmatt. Mit den Mitteln der Überspitzung, der Übertreibung und des Unmöglichen sezierte er seine Zeitgenossen und legte den Finger in die Wunde. Genau dies macht die Aufführung des Frühwerks “Romulus der Große” deutlich. Kaschig zeigt zum Schluss mit mehr als einem Augenzwinkern Eitelkeiten  und Enttäuschungen bei dem Streben nach Geschichtsträchtigkeit.

Spurius Titus Mamma hat schlechte Nachrichten.
Allo Fotos: Thomas M. Jauk
Die Aufführung beginnt mit einem Knalleffekt. Reiterpräfekt Spurius Titus Mamma (Gabriel von Berlepsch) stürmt auf die Bühne. Er hat schlechte Nachrichten für den Kaiser. Die Germanen haben Pavia erobert und marschieren nun auf Rom vor. Spurius Titus ist auf Hüfthöhe von einem Speer durchbohrt. Die sperrige Requisite wird noch für manchen Scherz sorgen an diesem Abend. Klamauk ist im Absurden Theater erlaubt, damit bleibt das Ensemble der Vorlage treu. Nur mit einem Lendenschurz bekleidet, weckt die Figur des Spurius Titus Assoziationen mit einem Gekreuzigten.

Der Landsitz des Kaisers ist alles andere als herrschaftlich. Das Bühnenbild von Michael Böhler zeigt das eingestürzte Dach eines großen Hühnerstalls. Im Leben des Kaisers dreht sich alles um das Federvieh und sein Hofstaat entpuppt sich als Hühnerhof. Inneminister Tullius Rotundus (Andreas
 Jeßing) ist ständig überfordert, Verteidigungsminister Mares permanent beleidigt. Die schiefe Ebene des Dachs macht klar: Hier geht es nur noch abwärts. Die römische Gesellschaft kommt hier ins Rutschen und in Stolpern. Slapstick ist gewollt und eine atemlose Darstellung vorprogrammiert. Die Reduzierung auf die drei Farben schwarz, weiß und stroh macht die Trostlosigkeit der Situation deutlich.

Noch glaubt der Hofstaat an die Rettung.
Alle Fotos: Thomas M. Jauk 
Der Kaiser kennt die Lage seines Landes sehr gut, aber er handelt nicht. Doch Vorsicht vor voreiligen Schlüssen und Parallelen zur Gegenwart. Romulus fehlt nicht das Konzept zum Handel, sein Nichtstun hat moralische Gründe. Wegen der hohen Blutschuld des Römischen Reiches lässt er das Imperium mit Absicht in den Ruin treiben.

Die Restbestände der römischen Geschichte verscherbelt Romulus in Form von Büsten an den Antiquitätenhändler Apollyon. So kommt wenigstens Geld für das Hühnerfutter ins Haus. Doch Romulus will nicht begreifen, dass er mit diesem Vorhaben die Biografien seiner Mitmenschen mit in den Abgrund gleiten lässt. Der Dialog mit dem Schwiegersohn-Anwärter Ämillian (Lutz Gebhardt), der für sein Vaterland unglaubliche Leiden auf sich nahm, gehört zu den bittersten Momenten.

Gerd Zinck in der Titelrolle ist das Zentralgestirn dieser Inszenierung. Er schafft es, die vordergründige Sympathie für den moralisierenden Potentaten in Skepsis kippen zu lassen. Aus dem dauerfrühstückenden Tunichgut wird im Laufe des Stücks ein selbst ernannter Richter über das Schicksal seiner Liebsten. Zinck gibt der moralischen Überheblichkeit und der Selbstgerechtigkeit ein süffisantes Gesicht und ein ruhige Stimme. Der Toga-Träger weiß, dass die Zukunft der Hose gehört und die Germanen tragen nun mal diese Beinkleider.

Der Kaiser interessiert sich nur für die
Hühnerzucht.
Dennoch ist er nicht bereit, das Rettungsngebot des Hosenfabrikanten Caesar Rupf anzunehmen. Für die Hand der Kaisertochter will er die anrückenden Barbaren mit Geld zum Umkehren überreden.  Ronny Thalmeyer schafft es, diese Figur mit der richtige Mischung an Unterwürfigkeit und Ernsthaftigkeit vor dem Abgleiten ins Lächerliche zu bewahren

Als Romulus zu spät begreift, dass sein Nichthandeln eben auch Verderben für seine Liebsten bedeutet, findet er schnell in die Spur zurück. Der Gleichmut, in den Zinck mit sparsamer Mimik und Gestik auf die Bühne bringt, übersteigert alles Realistische. Aber gut, Romulus ist eben Absurdes Theater. Manchmal ist dieser Romulus ein begriffsstutziger Kaiser. Dann kann nur den Kopf schütteln und sich gleichzeitig freuen, dass Zinck diese Figur bis in diese Tiefen auslotet.

Damit greift die Inszenierung das Thema “Der Einzelne und das Kollektiv” auf. Während der Hofstaat die Nation retten will, gilt für Romulus nur das Primat des Individuums. Er kann nicht erkennen, dass es kein Gegensatzpaare sind, sondern Individuum und Staat einander bedingen. Romulus will nicht begreifen, dass sein Nichtstun alle Ideale und Taten seiner Liebsten entwertet. Dieses tragische Dilemma vermittelt Gerd Zinck auf ganz undramatische und charmante Weise. Letztlich scheitert Romulus. Die germanischen Eroberer verweigern ihm den Märtyrertod und schicken den abgehalfterten Kaiser einfach in die Pension.

Odoakar (rechts) schmeckt der Spargelwein nicht

so recht.  Foto: Thomas M. Jauk
 
Mit dem Auftritt des Odoaker bekommt die Inszenierung einen zweiten Pol. Bardo Böhlefeld in der Rolle des  siegreichen Germanenfürsten kontrastiert die Schlitzäugigkeit Zincks mit Souveränität und Gradlinigkeit. Die Überlegenheit des Siegers ist nicht nur durch das Tragen der praktischen Hosen begründet. Er ist zudem gut informiert und hat einen Plan B in der Hosentasche. Böhlefeld tragt fast schon eine Heldenbrust zu Markte. Dennoch wird auch er scheitern.

Man bekommt richtig Mitleid, mit den Anti-Helden, als diese merken, dass sie sich völlig falsche Vorstellungen vom Gegenüber gemacht hatten. Bei alle Gemeinsamkeiten, Hühnerzüchter und Getriebener des Weltgeschichte, entscheidet doch das Trennende. So wird Odoaker zum Sieger wider Willen. Romulus wird der moralische Triumph verwehrt, er geht einfach in Pension. Die tragischen Momente sind das Schönste an dieser Groteske.

Chamberlains Appeasement-Politik mag die historische Grundlage für “Romulus der Große” gewesen sein. Vergleiche zur aktuellen politischen Situationen in Europa müssen hinken. In Dürrenmatts Frühwerk geht es um ewig gültige Fallstricke. Was soll man machen, wenn die Entscheidung des einzelnen Mächtigen absehbar in den Abgrund führen.

Kaschig stellt noch einige andere Fragen. Beantworten darf sie das Publikum selbst. Es darf sich aber auch einfach an Wortgefechten, Klamauk und absurden Szenerien freuen. Damit gehört “Romulus der Große” zu  den Höhepunkten der aktuellen Theatersaison.

Der Spielpan am Deutschen Theater
Das Stück

Friedrich Dürrenmatt bei wikipedia


Dienstag, 16. Februar 2016

Eine Oper, drei Pole

Verdis “Nabucco” am Theater Nordhausen

Wer sich in diesen Zeiten auf ein Stück mit religiösen Zwistigkeiten einlässt, der begibt sich auf ein schwieriges Parkett. Katharina Thoma hat sich mit Verdis Oper “Nabucco” auf dieses Wagnis eingelassen. Ihre Sicht auf die Geschichte um den assyrischen König überzeugt mit einer neuen Gewichtung der Akteure. Die Inszenierung am Theater Nordhausen stellt sowohl Traditionalisten und als auch Erneuerer mehr als zufrieden.

Nabucco hat die Israeliten be-
siegt. Alle Fotos: Tilmann Graner
In “Nabucco” hat Verdi  ist die Geschichte des historischen Königs Nebukadnezar, der sich zum Gott aufschwingt, tief fällt und doch noch die Wende zum Guten schafft, verarbeitet. Die Oper erzählt  auch vom Kampf der Israeliten gegen die babylonische Gefangenschaft. Für Verdis Zeitgenossen galt dies als Sinnbild der Auflehnung gegen die französische und österreichische Fremdherrschaft. So wurde der Gefangenen-Chor zur Hymne des italienischen Freiheitskampfs und ein Teil des kollektiven Musikgedächtnisses.

Für Verdi wurde diese Oper zum Triumph nach den Misserfolgen in Mailand und dem Tod seiner beiden Kinder und seiner Frau. “Nabucco”steht am Anfang seines produktivsten Phase. Dieser Bedeutung wird die Inszenierung von Katharina Thoma gerecht. Sie bewahrt das Erbe und schafft trotzdem den Verweis in die Gegenwart. Zudem liefert sie Erklärungsmöglichkeiten für die Persönlichkeiten im Machtkampf zwischen Nabucco und Abigaille.

Im Präludium, noch vor dem ersten Akt, erleben wir die Geschichte vor der Geschichte. Rein mit Pantomime erzählen Yoontaek Rhim, Paul Kroeger und drei Kinder aus der Statisterie vom gemeinsamen Aufwachsen der Fenema und der Abigaille. Wir werden Zeuge der Benachteiligung der Abigaille und wir werden Zeuge der Entführung des Prinzen Ismaele. Wir sehen wie die zarte Liebe zu Fenema entsteht und wie die Prinzessin den Gefangenen befreit und ihn in das umkämpfte Jerusalem begleitet. Dann setzt die bekannte Handlung ein

So öffnet Katharina Thoma eine neue Dimension. Abigaille will nicht nur Macht, sie will Genugtuung für jahrelange Demütigung. Die Erklärung für die Zukunft liegt in der Vergangenheit. Dies wird im zweiten Akt deutlich, als zur Arie “Anch’io dischiuso un giorno” die Schulbank aus vergangenen Tagen und das kindliche Alter Ego auf der Bühne auftauchen. Auch später taucht die Schulbank als Symbol der Demütigung wieder auf.  Die Zeichensprache von Katharina Thoma ist eindeutig. Dies gilt besonders im dritten Akte, als sie die Siegesparty der Abigaille von den hängenden Gärten Babylons in eine Loft verlegt.

Zwischenzeitlich sieht Abigaille wie die Siegerin
aus. 
Kränkung, Verzweiflung und Sehnsucht nach Anerkennung, all dies bringt Arona Bogdan hier zum Ausdruck. Aber sie beherrscht auch die Rolle des Racheengel. Zorn, Rachegelüste und kalter Plan liegen auch in diesem Sopran. Entsprechend den Idealen des Belcanto ist der Gesang der Abigaille mit Koloraturen gepflastert. Arona Bogdan meistert sie alle. Dies zeigt sie bereits im ersten Akt, als sie von Fenena und Ismael die Freundschaft erfleht.

Ihr starker Gegenspieler ist Yoontaek Rhim in der Titelrolle. Als assyrischer König mit Hang zum Größenwahn liefert der Tenor seine beste Leistung in Nordhausen ab. Besonders sein Solo am Beginn des vierten Akts erzeugt Gäsenhaut. Gespenstisch tauchten die Figuren der Vergangenheit im Halbdunkel auf. Mit Rhim und Bogdan treffen in Nordhausen zwei Gegner auf Augenhöhe aufeinander. Der Gewinner ist das Publikum.

Die dritte treibende Kraft ist in dieser Inszenierung der Chor. Schon Verdi hatte dem Ensemble gegen die Gepflogenheit der Zeit diese tragende Rolle zugestanden. Der Opernchor Nordhausen unter der Einstudierung von Markus Popp erfüllt die Erwartungen zur Gänze. Mit dem Orchester bildet das Ensemble über weite Strecken eine Einheit.

Der Chor ist die dritte Kraft in dieser
Inszenierung.
Aber natürlich hat das Ensemble seinen stärksten Momente mit “Va pensiero sull’ ali dorate”, jenem weltbekannten Gefangenenchor im dritten Akt. Summend wird er von Florian Kontschak in der Rolle des Priester Zaccaria eingeleitet. Bevor die ersten Silben erklingen, summen alle mit: Solisten, Chor und Publikum. Dass das Ensemble hinter Bauzäunen eingesperrt ist wie die Flüchtlinge an den europäischen Grenzen, verstärkt den bleibenden Eindruck noch einmal.

Überhaupt arbeitet die Ausstattung von Sibylle Pfeiffer und Barbara Häusl stark mit Versatzstücken der Gegenwart. Die Truppen des assyrischen Königs sind gekleidet wie Terrormilizen, das Volk der Israeliten ähnelt den Flüchtlingen der Gegenwart.

Bestimmendes Element des Bühnenbildes ist die Kulisse auf Rollen. Eine Seit zeigt eine Mauer, die an das babylonische Ischtar-Tor erinnert, die andere Seite weckt Assoziationen zur Klagemauer. Die mobile Ausführung erlaubt schnelle Szenenwechsel, die der Inszenierung das Tempo der Gegenwart verleihen.

Der Verdienst von Katharina Thoma liegt bei dieser Aufführung darin, dass sie nicht im Historizismus stecken bleibt, sondern besonders nach der Pause die Parallelen zur Gegenwart deutlich herausarbeitet. Nabucco landet nach seiner Entmachtung nicht im Kerker, sondern ruhiggestellt auf der Krankenstation. Das babylonische System sind nicht mehr die einzigartigen hängenden Gärten sondern Cocktail-Partys, wie sie auf jeder zweiten Chefetage stattfinden. Damit ist der “Nabucco” am Theater Nordhausen eine zeitgemäße Interpretation, die die geschichtliche Grundlage nicht ignoriert.


Der Spielplan in Nordhausen
Das Stück

Donnerstag, 11. Februar 2016

Zwei gute Lösungen

Theaterjugendclubs Nordhausen und Rudolstadt zeigen gemeinsames Projekt

Wenn man zwei unterschiedlichen Gruppen dieselbe Aufgabe stellt kommen zwei unterschiedliche Ergebnisse dabei heraus. Das Projekt "Aus dem Koffer" ist so etwas wie wohl kalkuliertes Improvisationstheater. Im letzten Herbst schickten sich die Theaterjugendclubs von Nordhausen und von Rudolstadt jeweils einen Koffer voller Requisiten zu. Aus den Gegenständen sollten bei Gruppen ein eigenes Stück entwickeln. Bei der Premiere am Sonnabend im Theater unter Dach präsentierten die Jugendlichen zwei sehr unterschiedliche Werke. Diese können nebeneinander bestehen und zeigen beide, auf welch hohen Niveau Jugendtheater sich bewegen kann.

Die Spielfläche ist in Schwarzlicht getaucht. Die Requisiten hängen im Halbkreis von der Decke und begrenzen die Aktionsfläche. Acht Jugendliche liegen als Knäuel auf dem Boden. Zur Sarabande von Händel erhebt sich einer nach dem anderem und wedelt mit einer Mullbinde. Diese Requisite wird das verbindende Element in diesem Stück. Entwirrt dreht jeder mit weit ausholenden Bewegungen seine Runden über die Spielfläche.

So abstrakt beginnt "frei.drehen", der Beitrag des Theaterjugendclub Rudolstadt. Kafkaesk wird es, als  eine Schauspielerin die Zitate mütterlicher Überforderung und Vereinsamung in das Publikum schreit. Damit steigt der Wiedererkennungswert  rapide. Überhaupt geht es im Werk der Gäste vor allem um Alltagserfahrungen, Enttäuschung und Verarbeitung.  Also bestens geeignet für ein Studiotheater. Das Kammerspiel der sieben Darstellerinnen und Victor Gluschkov als einzige männlicher Akteur erweist sich dabei als erstaunlich intensiv.

Manchmal gibt es auch Körperkontakt.
Alle Fotos: B. Susemihl
"frei.drehen" ist in einzelne Sketche aufgeteilt. Aus der Gruppe tritt ein Mitglied heraus, nimmt eine der Requisiten und erzählt von seinen Schwierigkeiten, vom Alkohol, vom Stress in der Schule, vom Druck der Gruppe, vom Mobbing, vom Kampf um Anerkennung, von den Erwartungen der Eltern. Meist starren die anderen Ensemblemitglieder dann rückwärts gewandt in das Dunkel der Hinterbühne. Nur selten kommt es zu Interaktion und Berührungen. Die Freiheit des "frei.drehen" ist vor allem die Einsamkeit.

Diese Einsamkeit ist vor allem ein Allein gelassen werden. Dies bekommt bedrückende Gewissheit in der Babysitter-Szene. Eine Schauspielerin spricht mit einem Kissen, als wäre es der kleine Bruder. Sie wiegt die Requisite als wäre es ein kleines Kind. Doch dieses Kind hört nicht auf zu Schreien. Es will sich nicht beruhigen. Die Szene eskaliert, als das Mädchen das Kissen auf den Boden schleudert und darauf herumtrampelnd. Sie schreit ins Publikum hinein "Immer lasst ihr uns allein. Warum? Warum?"

Keine der Figuren trägt einen eigenen Namen. Es gibt keine Biografie. Damit erhebt "Frei.Drehen" Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Inwieweit dieser erfüllt ist, dass muss jeder Zuschauer mit sich selbst klären.

"Pflicht oder Wahrheit" vom Theaterjugendclub Nordhausen wirkt wie ein Gegenentwurf. Es gibt einen Handlungsstrang, eine klare Rollenverteilung und Namen. Dennoch ist auch dieser Ausflug in die  jugendliche Welt nicht weniger eindrucksvoll. Schließlich geht es um Beziehungen und Verquickung in einer Gruppe, die tödlich enden werden.

Die Handlung erfolgt auf zwei Zeitebenen. Die Geschichte eines Mords wird in der Jetzt-Zeit erzählt, die Erklärung der Ereignisse erfolgt aus der Retrospektive. Von der dunklen Spielfläche treten einzelne Akteure nach vorn ins Spotlight. Sie nennen ihren Namen und erläutern warum sie bei der Halloween-Party waren, die so tragisch endete.

Das Unglück beginnt mit einer Runde "Pflicht oder

Wahrheit".    Foto: B. Susemihl
Da gibt es die dominante Vic und Verena, die ihren Freund enger an sich binden will. Der ist aber heimlich in Isabell verliebt. Dann sind da noch die Mitläufer, die nur auf die Party gehen weil die anderen auch hingehen und da ist Ebby, die Außenseiterin. Sie geht hin in der Hoffnung, ihre Beziehung zur Gruppe zu verbessern. Am Ende wird sie das Mordopfer sein.

"Pflicht oder Wahrheit" zeigt ein Stück aus der jugendlichen Realität, aber wo der Theaterjugendclub Rudolstadt auf Abstraktion bevorzugt, setzt Nordhausen auf das beispielhafte Handeln. Nach der Vorstellung der Handelnden wird die Geschichte in kurzen Szenen vorgetragen. Die Einleitung macht  immer unterbrochen von den Soli vor dunkler Spielfläche.

Dann stehen die Jugendlichen wieder im Scheinwerferlicht und Antworten auf die Fragen eines Polizisten aus dem Off. Zu setzt sich das Kaleidoskop der Untat zusammen. Es ist nicht wichtig, wer der Täter war. Die Motive sind entscheidend, die Motive und die Folgen der Tat.

"Aus dem Koffer" vereint zwei Produktionen, die die Lebenssituation von Jugendlichen widerspiegelt. Sie tun dies auf sehr unterschiedliche Art und Weise und beide Lösungen sind gut.



Der Spielplan am Theater Nordhausen
Das Stück

Dienstag, 2. Februar 2016

Romeo und Julia für Youtuber

Theater für Niedersachsen zeigt einen Tod, der zum Heulen schön ist

Zu Shakespeares Tragödie “Romeo und Julia” ist schon fast alles gesagt und geschrieben worden. Dennoch blätter  Gero Vierhuff mit seiner Inszenierung am Theater für Niedersachen neue Aspekte in der berühmtesten Liebesgeschichte der Welt. Die Premiere war am 16. Januar in Hildesheim.

Das öffentliche Leben in Verona wird vom Konflikt zwischen den Familien Capulet und Montague bestimmt. Die Streitigkeiten werden gern auch mal mit dem Degen ausgetragen. Doch dann wird die Lag kompliziert, denn Romeo Montague verliebt sich in Julia Capulet und Julia verliebt sich in Romeo.

Julia liebt Romeo und Romeo liebt Julia.
Alle Fotos: Quast/TfN
Für den Franziskanermönch Lorenzo ist dies Gelegenheit, den Streit der Familien zu beenden. Also vermählt er die beiden heimlich. Doch der Plan geht gehörig daneben. Romeo tötet Julias Cousin Tybalt. Der Montague wird nach Mantua verbannt. Nun fasst Lorenzo einen neuen Plan. Doch der geht erst recht daneben. Zum Schluss bleiben Romeo und Julia nur der Freitod.

Dass man den Geniestreich von Shakespeare nicht mehr erzählen kann oder erzählen muss wie zur Uraufführung 1597, dass weiß das Publikum spätestens seit Bernsteins “West Side Story”. Aber statt einer gewaltsamen Versetzung in die Gegenwart wagen Regisseur Gero Vierhuff und Dramaturgin Cornelia Pook einen Spagat aus Originaltext und Jetzt-Zeit.

Aber ihre Inszenierung ist ein Wagnis, auf das einzulassen sich lohnt. Denn neben der Liebesgeschichte stehen bei ihnen Fragen nach der Identität, nach dem Verhältnis zwischen Einzelnen und Gruppe und nach Schuld und Sühne. Das Bühnenbild von Hannes Neumaier ist auf vier Elemente reduziert. Es gibt drei Rampen auf Rollen, die auf der Piazza eine Arene bilden können oder im Verlaufe der Aufführung als Balkon, als Bett oder als Totenbahre dienen. Den Abschluss zur Hinterbühne bildet eine weiße Stoffbahn, die in unterschiedlichen Farben beleuchtet wird.

Der Verzicht auf schmückende Element macht deutlich, dass “Romeo und Julia” kein Mantel-und-Degen-Schülertheater ist. Es geht hier um grundlegende, um zeitlose Themen wie Liebe und Hass, Schuld und Tod. Deswegen ist auch die Kostümierung ganz im 21. Jahrhundert angesiedelt. Auch die Reduzierung der Akteure von 24 auf 8 Handlungsträger trägt zur Konzentration bei.

Jungadelige im Modus dauerpubertierend.
Foto: Quast
Sprachlich ist die Inszenierung zweigeteilt. Treffen Romeo und Julia zusammen, dann verbleiben sie im Shakespeareschen Original. Ihre Liebe scheint so rein, dass sie von keinem Gegenwartstrend getrübt werden darf. Überhaupt sind die Duette von Marek Egert und Julia Gebhardt in den Titelrollen die Höhepunkte der Premiere. Aufkeimen des Liebesglück und endgültige Verzweiflung wirken so echt, dass man mitheulen möchte.

Die sprachliche Gegenwart erreicht die Inszenierung immer dann, wenn Romeo sich mit Mercutio oder mit Benvolio im Modus der dauerpubertierenden Jungadligen treffen. Dann fällt auch schon mal der ein oder andere Kraftausdruck. Dann dröhnen auch schon mal Techno-Beats durch das Theater. Aber auch Tom Waits und ein Country-Song stehen auf der Playlist. Doch die Musik wirkt nicht erzwungen, die Songs sind eingepasst in ein schlüssiges Konzept.

Die Bestimmung des eigenen Ichs durch die Verortung in der Gruppe und die soziale Herkunft sind die anderen Themen. Die Verbannung kommt für Romeo dem Tode gleich, denn er ist seiner gesellschaftlichen Basis beraubt. Durch den Druck der Gruppe fühlt sich Mercutio zu Taten beflügelt, die die Liebesgeschichte letztendlich zum tödlichen Ende führt.

Dabei trägt Moritz Nikolaus Koch leider zwei Spuren zu dick auf. Sein Mercutio wirkt wie die Reinkarnation eines Punk auf Droge. Einzig seine Sterbeszene und sein fünffacher Fluch auf die Familien Montague und Capulet bleibt in Erinnerung. Er dreht den Lauf der Dinge endgültig Richtung Abgrund. An dieser Stelle wird aus der Liebesgeschichte eine Tragödie.

Als Romeo Thybalt tötet ist Schluss mit Lustig.
Foto: Quast
Hier vollzieht die Aufführung einen logischen Wechsel. Aus schnell, laut und schrill wird leise und eindringlich. Die grell erleuchtete Bühne taucht fast in Schwarz ab. Nur noch einige Spots setzten Akzente. Eindrucksvoll tauchten die Akteure aus dem Dunkel der Hinterbühne auf und verschwinden dort auch wieder.

Die Gegenwartssprache verschwindet fast gänzlich, es werden nun zeitlose Fragen wie Liebe und Gehorsam den Eltern gegenüber verhandelt. Schon Julias Monolog nach der Pause erzeugt Gänsehaut. Überhaupt ist der zweite Teil der Aufführung reich an starken Momenten, die in Erinnerung bleiben. Dazu gehört eindeutig die Fassungslosigkeit des Romeos angesichts des vermeintlichen Tods seiner Geliebten.

Die Musik hat auf sphärische Klänge umgeschaltet und das Mehr an Reduktion legt die Tiefe des Konflikts zwischen Julia und ihren Eltern offen. Die Brutalität von André Vetters als Capulet und die Hilflosigkeit von Michaela Allendorf als Mutter schockieren. Das tragische Ende ist unabwendbar und selten wurde beim TfN so eindringlich gestorben.

Zum Schluss darf Dennis Habermehl den letzten Akzent setzen. Sein Monolog über die tödlichen Folgen des Hasses lässt den Klassiker aus dem 16. Jahrhundert im Januar 2016 landen. Mit der Mischung aus Shakespeares Original und den Versatzstücken der Pop-Kultur ist  Gero Vierhuff eine Glanzleistung gelungen, die den Ruf des TfN als experimentierfreudig und experimentierfähig bestätigt. Diese Tragödie vereint sowohl die Generation der Youtuber als auch die der Rollkragenpullover-Träger.




Der Spielplan am Theater für Niedersachsen
Das Stück am Tfn
Romeo und Julia bei wikipedia

Das sagen die Kollegen
Romeo und Julia am DT Göttingen

Ein Tribut an "The Voice"

Frankie Boy im Deutschen Theater zeigt Ausschnitte aus Sinatras Leben

Ein Theaterstück ist es gewiss nicht. Aber ist "Frankie Boy" nun ein Musical oder doch eher ein Konzert? In seiner aktuellen Produktion beschäftigt sich Erich Sidler mit dem Leben von Frank Sinatra. Frage hin oder her. Auf jeden Fall war  das Publikum bei der Premiere am 9. Januar im Deutschen Theater Göttingen begeistert.

Der Einstieg mutet noch vertraut an. Paul Wennig empfängt das Publikum als Mafiosi Willie Moretti. Frederik Schmidt bittet um Hilfe in einer heiklen Angelegenheit. Der Pate lässt den Namen Sinatra fallen und gibt noch ein paar Tipps zur Bedeutung der Familie  für US-Amerikaner italienischer Abstammung.  Gleich danach "befreit" die Mafia Frank Sinatra aus dem Knebelvertrag mit Tommy Dorsey. Der kometenhafte Aufstieg in den 40er Jahren beginnt und Sinatra ist auf seinem Weg.


Wenige Szenen reichen und schon ist das Publikum in der Erzählung. Das Mafia-Thema durchzieht den ganzen Abend. Dabei  verlässt der Erzählfluß nie den Mainstream und kein Klischee wird ausgelassen. Aber Frankie Boy wurde ja auch nicht als Wochenendkurs zur "Entstehung von Parallelgesellschaften und deren Machtstrukturen" angekündigt.

Diese drei beherrschen den Abend eindeutig: Moritz
Schulze, Katharina Uhland und Benjamin Krüger.

Foto: DT Göttingen
Zergliedert ist die Biografie in kleine Anekdoten. Sinatras Leben zwischen Mitte der 1930-er und Mitte der 60-er Jahre wird in  Häppchen serviert. Das ist eine durchaus adäquate Anlehnung an die Nummer-Revue der Swing-Ära. Vorkenntnisse schaden nicht. Wer sich in Sinatras Biografie auskennt, der kann die Szenen einordnen und an einigen Stellen schmunzeln. Aber auch ohne eine Hauch von Ahnung kann man den Abend genießen, denn im Vordergrund steht eindeutig die Musik. Jede Etappe wird mit einem Song eingeläutet und dann auch wieder abgeschlossen. Damit wäre die einleitende Frage beantwortet.

Natürlich ist die Musik live und die Simple Swing Society ist an diesem Abend ein Erfolgsgarant. Musik-Pate Michael Frei hat wohl die kleinste Big Band der Region geschaffen. Trotz der knappen Besetzung ist der Sound voll und umfassend wie es sich für Swing gehört. Selbst das Styling ist passend, sogar der Schwenk auf die roten Sakkos mit Bauchbinde nach der Pause ist stilgerecht. Schließlich ist die Erzählung zu diesem Zeitpunkt in den Latino-inspirierten  50er Jahren gelandet.

Das Stück versammelt fast alle Welthits von Sinatra, aber eben nicht alle. Sicherlich können  die Fachleute stundenlang über die Auswahl diskutieren, was hätte sein müssen, was nicht hätte sein dürfen. Aber "Frankie Boy" will auch kein Abendkurs über "Swingmusik als Spiegel wechselnder Lebenszusammenhänge" sein. Moritz Schulze will einfach nur spielen, beziehungsweise singen.

Die Damenwelt himmelt der Star an.
Foto: DT Göttingen
Zum Glück versucht er an diesem Abend nur einmal so zu klingen wie Sinatra, ansonsten klingt Schulze wie Schulze . Seine Stimme ist gänzlich anders, der Sinatra-Schmelz fehlt und das ist kein Fehler. Schulzes Gesang ist transparenter und kraftvoll und das gibt dem Stück eine einmalige Dynamik. In seiner Freude am Spiel und am Swing reißt er den Rest der Gang mit und die Duette mit Benjamin Krüger erreichen gerade zum Ende einen hohen Gänsehautfaktor.

Der andere Stern an diesem Abend ist aber Katharina Uhland in der Rolle der Ava Gardner. In der sketchartigen Struktur bleiben ihr die wenigen schauspielerischen Momente vorbehalten und mit ihrer Leistung bewahrt sie das Stück davor, eine One-Man-Show zu werden. Und zudem hat sie verdamtt viel Blues in ihrer Stimme.

"Frankie Boy" kann kein Theaterstück sein, denn nach dem Mitklatsch-Songs '"New York, New York" und tosenden Applaus , da gibt es glatt noch zwei Zugaben. Wer hat schon jemals eine Zugabe in einem Theaterstück erlebt? An diesem Abend haben die Solisten jede Menge Spaß, das Ensemble hat jede Menge Spaß, die Band sowieso und damit hat auch das Publikum jede Menge Spaß. Das ist das entscheidende Kriterium bei dieser Premiere.

 "Frankie Boy" ist auf jeden Fall ein Stück, dass die Jahrzehnte feiert, die von vielen als die "guten alten Zeiten" tituliert werden. Als wahre Männer immer eine Zigarette, einen Whisky und ein hübsches Mädchen in den Fingern hatten. Gelegentlich gesellte  sich auch noch ein Revolver hinzu. Die Frage, wie sie das alles mit nur zwei Händen und in dieser Lässigkeit geschafft haben, die bleibt leider unbeantwortet. Aber "Frankie Boy" ist ja auch kein Anatomie-Kurs.


Das Stück
Der Spielplan