Sonntag, 19. Juli 2015

Spektaktel mit sechs Musikern und einem Schauspieler

Die Comedian Harmonists als Sommertheater

Nun ist das letzte Geheimnis der Domfestspiele 2015 gelüftet. Bei der der Premiere der Comedian Harmonist präsentierte Achim Lenz am Freitag unterhaltsames Sommertheater in perfekter Form und verwischte damit die Grenzen der Genres.

Drama, Musical oder Konzert. Für das Publikum war diese Frage zweitrangig, es konnte nicht genug bekommen und forderte drei Zugaben ein. Drei Zugaben? Drei Zugaben. Also ist die Frage doch beantwortet: Es war ein Konzert, ein Konzert mit szenischer Darstellung.

Der Traum von Frommermann und Biberti lässt sich
in Noten fassen. Alle Fotos: Hillebrecht
Die Comedian Harmonists stehen in erster Linie für Musik, die auch 80 Jahre nach dem Aus der Band nicht von ihrem Reiz verloren hat. Diesem Reiz konnten auch Regisseur Achim Lenz und Dramaturgin Jennifer Traum nicht widerstehen. Sie sind in ihrer Inszenierung konsequent. Im zweiten Teil des Abends werden die Songs der Comedian Harmonists zum Träger der Geschichte.

Schließlich ist es zu diesem Zeitpunkt eine Erfolgsstory. Hit folgt auf Hit und die Erfolgsgeschichte lässt sich eben wunderbar mit diesen Hits erzählen. "Veronika, der Lenz ist da", "Mein kleiner grüner Kaktus", "Ein Freund, ein guter Freund" und einige andere Songs der Harmonist. Die Schlagerparade ist komplett.

Doch bis dahin ist kein leichter Weg. Lenz die Entstehungsgeschichte des Sextetts in Stationen. Die erste Station ist die legendäre Annonce vom 18. Dezember 1927. 70 Musikerund solche, die sich dafür hielten sollen sich damals bei Harry Frommermann gemeldet haben. Fast alle werden sie von Jens Schnarre verkörpert. Er darf sogar ein wenig über die Zeitgenossen Kurt Weill und Jopie Heesters witzeln.

Schnarre ist in diesem Stück der einzige Schauspieler unter sechs Musikern. Ob Kriegsversehrter, Vermieterin, Manager, Nachtclub-Inhaber, SA-Mann oder NS-Scherge. Er meist alle Aufgaben glaubwürdig und es ist faszinierend, wie er ohne Glaubwürdigkeitsverlust in wenigen Sekunden von Rolle zu Rolle springt.

Wochenend und Sonnenschein. Mit dem Erfolg kommt
der Wechsel der Garderobe.
Dann betritt Daniel Dimitrow in der Rolle des Robert "Bob" Biberti die Bühne und die Verwirklichung eines Traums nimmt erste Formen an. In der Gandersheimer Aufführung bekommt Dimitrow die prägende Funktion, die sein Alter Ego Biberti im Geflecht der Harmonist wohl auch hatte. Mit Stimmvolumen und Körperlichkeit erfüllt Dimitrow diese Funktion ganz. Zusammen wollen Biberti und Frommermann etwas schaffen, was in Deutschland noch nie gegeben hat. Sie wollen nicht nur zusammen träumen, sondern für diesen Traum auch arbeiten.

Dirk Weiler als Harry Frommermann und Gero Wiest in der Rolle des Pianisten Erwin Bootz können in ihrem Kampf der Platzhirsche ähnliche Akzente wie Dimitrow setzten. Für Oliver Polenz, Jannik Nowak und Johannes Kiesler bleiben im Vergleich dazu eher die Nebenrollen. Doch eins zeichnet alle aus. Es ist bewunderswert, wie Darsteller, die hauptberuflich Schauspieler sind, innerhalb kurzer Zeit zu einem mitreißenden Gesangsensemble zusammengefunden haben. Da zerfließen die Grenzen zwischen Werk und Arbeit.

Ausgiebig berichtet die Inszenierung von den Schwierigkeiten der Bandwerdung. Es sind vor allem die äußeren Schwierigkeiten, die aber nicht den Weg auf die Bühne finden. Zum Teil könnte das Sextett auch die Besatzung eines Raumschiffs sein. Die Realität bringt immer nur in Form diverser Anrufe zu den Musikbesessenen vor. Seit der Reanissance erfüllte der Brief diese Funktion, nun ist es das Telefon. Warum auch nicht, schließlich war Tempo das bestimmende Lebensgefühl der 1920er Jahre.

Tempo nimmt auch die Aufführung mit dem ersten Engagement des Sextetts auf. Es folgt der Garderobenwechsel. Der Arme-Leute-Mantel weicht dem Smoking und die Schiebermütze wird durch den Zylinder ersetzt. Die Musik tritt immer stärker in den Vordergrund. Die Aufführung wird endgültig zum Konzert und die Geschichte der Comedian Harmonist mit ihren Songs erzählt.

Das Sextett versteht nicht, was in Deutschland
passiert.
Auf der Insel der Glückseligen, die Comedian Harmonist heißt, werden die Veränderungen in Deutschland erst nur am Rande wahrgenommen. Das Aufziehen der Hakenkreuzfahne im Bühnenhintergrund wirkt anfangs wie reine Dekoration. Auch die Spannungen im Sextett bleiben nur Marginalien. Deswegen kommt der Bruch im Ensemble unvermittelt. Er ist schnell, schmerzvoll und endgültig. Weilers Versuch, die Fahne herabzureißen, ist Ausdruck purer Hilflosigkeit. Aber vielleicht spiegelt die Inszenierung damit mehr Zeitgeschichte wider, als auf den ersten Blick scheint. Vielen Mitbürgern jüdischen Glaubens war 1933 nicht bewusst, was ihnen bevorstand. Sie waren  integriert und konnten auf ihre Verdienste als Frontkämpfer im I. Weltkrieg verweisen.

Doch der Traum zerbricht so wie die Bühnenarbeiter die Schallplatte zerbrechen, die bisher das Geschehen dekorierte. Am Anfang der Gesangsrevue steht "In einem kühlen Grunde" und am Ende steht es noch einmal auf dem Programm. Die musikalische Klammer macht deutlich: Mit dem Zerbrechen der Comedian Harmonist kehrte das treudeutsche Volkslied zurück auf die Bühne des Reichs.

Träume sind das Thema der diesjährigen Domfestspiele und mit seiner Inszenierung hat Achim Lenz dieses Thema umfassend aufgegriffen. Da sind Menschen, die träumen, die zusammen träumen, die zusammen an der Verwirklichung ihrer Träume arbeiten und schon schlossen platzen diese Träume aus unterschiedlichen Gründen. Die Geschichte der Comedian Harmonists wird somit zur kurzweiligen Parabel über das wahre Leben und vielleicht ist deswegen am Ende des Abends das Publikum aus dem Häuschen. Da sind drei zugaben doch wohl das Mindeste.

Die Gandersheimer Domfestspiele

Die Comedian Harmonist bei wikipedia

Donnerstag, 16. Juli 2015

Den Othello gerappt

Extempore macht Tempo bei Shakespeares sämtlichen Werken

Doch, dieses Wortspiel musste jetzt sein, schließlich passt es zum Stück.
Den Versuch, das Schaffen des englischen Theatergenies übersichtlich zusammenzufassen, gab es in den letzten 150 Jahren gefühlte 150 Mal. Der Zweibänder von Walter E. Richartz und Urs Widmer gehört zu den unterhaltsamsten, der Zweistünder des Nordhäuser Sommertheaters Extempore zu den witzigsten und rasantesten.
Seitdem Adam Long, Daniel Singer und Jess Winfield ihr Stück "Shakespeares sämtliche Werk, leicht gekürzt" 1987 auf dem Edinburgh Festival Fringe uraufführten, ist es zum Klassiker des komischen Theaters geworden. Den drei Straßenkünstler gelang, was schlicht unmöglich ist. Sie komprimierten Shakespeares komplettes Schaffen auf 2 Stunden Spieldauer. Bis dahin hielt sich das Gerücht, man bräuchte für die 37 Komödien und Tragödien satte 120 Stunden.
Anika Kleinke ist unter anderem Macbeth.
Alle Fotos: tok
Warum dies nicht so ist, liegt unter anderem daran, dass alle 16 Komödien aus Shakespeares Feder nach dem gleichen Muster funktionieren, erfahren wir wir mal so eben ganz nonchalant und mittendrin. Folglich kann man sie alle in einem Stück zusammenfassen. Stimmt, im Grunde genommen geht es um Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiele und um Liebesleid. Den Beweis treten die drei Mimen gleich an. Weil sehr textlastig, ist dies vielleicht der schwächste Teil.
Ansonsten ist die Show von Anika Kleinke, Oliver Seidel und Thomas Wiesenberg eine rasante Fahrt durch eben jenes Werk. Dies zeigt sich in der Zusammenfassung der Shakespeareschen Königsdramen, die man eben auch als Übertragung eines Fußballspiels komprimieren kann. John Cleese, Terry Gilliam, Eric Idle und Gefährten hätten dies nicht besser machen können.
Nicht nur Monty Phyton, auch die Marx Brothers haben Long, Singer und Winfield wohl seinerzeit Pate gestanden, als sie ihr Stück in jahrelanger Arbeit im Straßentheater entwickelten. Auf jeden Fall strotzt es nur so vor Tempo, skurrilen Einfällen und absurden Ideen. Die Inszenierung von Benedikt Schörnig setzt dem ganzen aber noch die Krone auf. Zu den Hunderten von überdrehten Ideen packt er noch ein paar Einfälle drauf. Da wird Titus Andronicus zur Kochshow, der Othello wird eben mal schnell gerappt und Macbeth gibt es Fechtszene in Zeitlupe.
Manchmal rollen auch Köpfe.
Der Start ist ein nicht ganz ernst gemeinter Vortrag über Leben und Schaffen von William Shakespeare, der bald entgleitet. Schön, wie Thomas Wiesenberg den überdrehten und überforderten Hobby-Anglisten gibt.
Doch, in diesem Durcheinander gibt es einen Rollenverteilung und die ist klar. Wiesenberg macht, wie gesagt, den Hobby-Anglisten, Oliver Seidel ist der Kaspar unter den Clowns und Anika Kleinke darf die dominanten Teile übernehmen. Wie eben auch bei den Marx Brothers, nur das Groucho eben einen Schnurrbart trug und Harpo am Lockenkopf zu erkennen war. Na gut, Reizwäsche haben die aber nicht getragen.Mit dieser Rollenverteilung kokettieren die drei auf der Bühne auch noch. Die Pantomime von Thomas Wiesenberg vor der Pause ist jener Teil, der das Tempo ein wenig herausnimmt und dem Publikum die Möglichkeit zum Verschnaufen gibt.
Übrigens, es macht nichts aus, wenn man Shakespeares Werke nicht kennt. Das Theater über das Theater ist Spaß genug. Die teils derben Scherze funktionieren auch ohne Beihilfe aus Stratford-upon-Avon. Es macht auch nichts aus, wenn man Shakespeare kennt. Es ist keine Demontage, was hier betrieben wir, sondern eine Huldigung, die vielleicht sogar dem Meistern gefallen hätte.
Was man als Publikum aber nicht haben darf, das ist Angst vor schauspielerischer Nähe. Der ein oder andere Held kommt den Zuschauern doch recht nah. Das tut dem ganzen Spaß aber keinen Abbruch

Die Website des Sommertheaters
Das Sommertheater Extempore bei facebook

Die Stück beim Theater für Niedersachsen

Sonntag, 12. Juli 2015

Bollywood, der Papst und der Duft der weiten Welt

Das Experiment "Im Namen der Rose" ist eindeutig gelungen

Mit dem Spektakel "Im Namen der Rose" betrat das Theater für Niedersachsen (TfN) Neuland. In Zusammenarbeit mit dem Forum für Kunst und Kultur Heersum entstand eine Produktion, die die Grenzen des Theaters aufhebt. Das Experiment ist gelungen und Spßa gemacht hat es auch. Bei der Premiere am 11. Juli waren alle begeistert, Darsteller, Produzenten und Zuschauer.

Noch nie war die Besetzungsliste einer TfN-Produktion so lang. 149 Namen und "u.a." sind dort zu finden. Meist sind es Laiendarsteller des Forum für Kunst und Kultur aus Heersumer, das über dem Namen Sommertheater seit 1990 Kulturarbeit auf dem Lande leistet. Ergänzt wurde die Heersumer Schar mit Personal des TfN. Dieses sorgte auch für die Logistik und die hauptamtliche Begleitung.

Die Wildrose ist entsetzt. Der Pilz-
sammler ist da. Foto: tok
Dieses Stück sprengt alle Dimensionen. Regisseur Uli Jäckle spricht bei den Projekten der Heersumer gern von Landschaftstheater. Das heißt sich, dass seine Truppe die Mauern einer festen Spielstätte hinter sich lassen. Die Landschaft selbst wird zum Teil der Inszenierung, zum Thema. In diesem Falle ist es die Stadtlandschaft von Hildesheim. Immer wieder gibt es Bezüge zu den mittelalterlichen Bauten und  den Bausünden der Nachkriegszeit. Denn die Stadtlandschaft spiegelt ja die Geschichte wieder.

Diesen Stadtraum macht die Inszenierung begreifbar und begehbar. Der Auftakt des Spektakels läuft parallel an vier Spielstätte. In Form von improvisierten Stadtführungen werden die Zuschauer in Kleingruppen an den ersten zentralen Spielort Marktplatz geführt. Allein schon de3r Weg dorthin wirdf zum Erlebnis.

Unterwegs treffen die Gruppen immer wieder aufeinander, tauschen sich aus und grenzen sich ab. Aber jeder Gruppe erlebt ihre ganz eigene Führung. Dabei geht es nicht nur um Gemäuer, sondern auch um die Menschen, die diesen Stadtraum bevölkern und beleben. Die kleinen Geschichten sind deutlich von Monthy Phyton inspiriert. Letztendlich wird sogar das Publikum zum Teil der Inszenierung. Die Grenze zwischen Darsteller und Zuschauer wird aufgeweicht.

Was aussieht wie improvisiert, ist genau geplant. Im Stadtgebiet sind Schauspieler verteilt, die alltägliche und außergewöhnliche Szenen darstellen. Es wirkt wie ein surrealistischer Film von Bunuel. Da stehen Touristen, die in Stadtplänen blättern, Käuferinnen, die in Schaufenster starren, und Polizisten, die die Wege sichern. Denn es geht ein Gerücht durch die Stadt: Der Papst kommt.

Auf dem Marktplatz laufen die Fäden zusammen. 
Auf dem Marktplatz vor dem Rathaus werden die Zuschauer, Darsteller und die Fäden zusammengeführt. Nach dem Prolog im Stile eines Mangas und der Darlegung der Ausgangssituation wird das Tempo noch einmal gesteigert. Hier treffen die vier Maritas und Klaus-Dieters aus den Vorspielen aufeinander. Alle sind auf der Suche nach einer Herberge und es entbrennt ein wildes Feuergefecht um das einzige freie Hotelzimmer.

Vier Opels und ein Polizeiauto befahren die Szenerie. Bürgermeister und Stadtrat spielen den Chor einer griechischen Tragödie, in Maharadscha greift ins Geschehen ein. Die Hildesheimer Polizei tanzt zu Bollywood-Klängen und Dennis Habermehl darf als Klaus-Dieter Matumsack unter den Augen des Rolands im Stadtbrunnen planschen. Schließlich hat das Hotel keinen Pool. Erfrischend.

Doch, dieses Stück sprengt alle Dimensionen. Eine größere Requisite als der Drehleiterwagen, mit dem sich der neue Marketingleiter Franz Vorne chauffieren läßt, dürfte es in der Geschichte des TfN noch nicht gegeben haben.

Ach Handlung, wird überbewertet. "Im Namen der Rose" ist eine Klamotte im besten Sinne. Sie vereint Slapstick. Satire und Selbstironie und bedient sich frech und treffend im Steinbruch der Popkultur. Zu den Klängen des Golden Reiters von Joachim Witt braust Franz Vorne auf den Marktplatz und sofort weiß das Publikum, dass dieser Mann wohl nicht ganz richtig sein kann. Arnd Heuwinkel spielt den Marketingleiter an der Grenze des Größenwahns mit übersprudelnder Freude und reichlich Berliner Schnauze. Die Stilmittel und der freche Umgang mit den Formen sind Selbstzweck und schon allein deswegen lohnt sich das Zuschauen.

Hildesheims Polizei tut Dienst in Bollywood.
Im Kern dreht sich das Stück nicht nur um die Sage der Hildesheimer Rose und den Bau des Doms vor 1.200 Jahren. Es geht auch um die jüngere Stadtgeschichte, den schleichenden Bedeutungsverlust und das vermeintliche Qualitätsmerkmals "Großstadt".

Eine Marketingoffensive mit dem Duft der weiten Welt soll die Situation schlagartig verbessern. Die Rose am Dom soll dabei helfen. Doch beide sind lebendig geworden, haben ein Kind gezeugt und sind nach Rom geflohen.

Doch die Polizei hält die Domgärtner für die Hintermänner. Schließlich ist der Mörder immer der Gärtner. Wie die Ordnungshüter mit den Tatverdächtigen umgeht und welche Hintergründe die Flucht wirklich hat, das erfährt das Publikum an der dritten Station, dem Theater. Doch vorher gibt es dort eine Musikshow und der Bachelor tritt auf. Balkonszene hin oder her.  Hildesia, die auserwählte Braut, verschwämt ihn und seine Rose. Also sinnt er auf Rache und dazu bedient er sich der Terrorgruppe der militanten Ministranten. Ach ja, und der Maharadscha, der ja zwischenzeitlich die ganze Stadt aufgekauft hatte, schreitet auch wieder ein.

Das ist aber nur der Kern, um den herum sich dutzende von Einfällen und Momenten gruppieren. Einige stehen für sich und andere werden später wieder aufgenommen. Der Harmonie tut dies keinen Abbruch.

Ja, es geht um Stadtgeschichte und um Gegenwart. Diese haben Uli Jäckle, Jürgen Zinke, Marion Schorlepp und Astrid Reibstein in einem herzerfrischenden Mix mit jeder Menge Augenzwinkern und Selbstironie aufbereitet. Wer historische nicht so gefestigt ist, der kann sich an dem Tempo und skurrilen Einfällen satt sehen. Wer die leidgeplagte Hildesheimer Seele kennt, der hat ein paar Extra-Lacher sicher. Es geht auch um Selbstverständnis und um Empfindlichkeiten.

Hildesia verschmäht die Rose des
Bachelors. 
Die Reisegruppe der Uschis verwechselt immer wieder Hildesheim und Heidenheim. Die Stadtoberen wollen unter keinen Umständen irgendeinen Gast an  Hannover oder Braunschweig verlieren. Marketingleiter Franz Vorne muss immer wieder daran erinnert werden, für welche Stadt er arbeitet. Aber bestimmt gibt es in der deutschen Provinz mindestens 92 Städte, auf diese Beschreibung auch zutrifft. Deswegen ist "Im Namen der Rose" nicht nur ein Spektakel zu 1.200 Jahre Hildesheim, sondern auch die Beschreibung kleinstädtischen Befindlichkeiten und Perspektiven.

Bei diesem Stadtlandschaftstheater sind die Orte mit Bedacht gewählt. Die letzte Station ist die ehemalige Mackensen-Kaserne. Leerstehende Kasernen und hochtrabenden Pläne damit gehören auch zur Realität längs der ehemaligen deutsch-deutschen Grenze. Man kann darüber jammern oder ein schönes Stück Theaterspektakel machen.

Natürlich gibt ein Happy End und der Papst taucht auch noch auf. Selbst das Hotel Rose erlebt eine Renaissance. Der Bau aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts fiel einst der architektonischen Rückkehr ins Mittelalter zum Opfer. Das ist nicht die einzige Spitze, die die Kommunalpolitik abbekommt.

Wahrscheinlich kann man solch ein Spektakel nur mit einem Partner verwirklichen, der ein wenig außerhalb des offiziellen Theaterbetriebs steht und in anderen Bahnen denkt. Der Charme der Inszenierung besteht zum großen Teil aus der Mischung von erkennbaren Laientheater und professionelle Durchführung. "Im Namen der Rose" lebt auch von den Hunderten von Einfällen, Ideen und Fäden, die  wieder zusammengefügt werden und ein Ganzes ergeben, ein lebendiges Bild der Stadtlandschaft und der Geschichte, die eben zusammengehören.

Ach, bevor ich es vergesse, die Kostüme. Im märchenhaften Prolog fantasievoll und beflügelt. Wurde eigentlich schon einmal eine Hagebutte auf die Bühne gebracht? Jedenfalls muss sie künftig genau so aussehen wie die Hildesheimer Ausgaben. Im Action ist die Kostümierung alltagstauglich trashig. Wunderbar sind einfach die Hawaiihemden der Klaus-Dieters. Schön auch das Grau in Grau in der Reisegruppe der Uschis, wie aus dem Leben gegriffen.

Für das Publikum ist "Im Namen der Rose" mindestens eine erfrischende Version der Hildesheimer Stadtgeschichte. Für das TfN ist es die Fortsetzung der Öffnung, die vor zwei Jahren mit der Shakespeare-Persiflage auf dem Marktplatz begann. Für das Sommertheater Heersum wohl ein Highlight in 25 Jahre Vereinsgeschichte. Es bleibt zu hoffen, dass es nicht noch einmal 25 Jahre dauert, bis die beiden Königskinder wieder zueinander finden.

Das Theater für Niedersachsen
Das Sommertheater Heersum

Die Bildergalerie bei der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung 

 

Sonntag, 5. Juli 2015

Dieses Theater lässt keinen kalt

Peter Jech macht im Theater unterm Dach den Feuerwehrmann

Hiermit schlagen wir, der härteste aller Kritiker und der Theatergänger, Peter Jech und das schwarzweiß figurentheater für die Verdienstmedaille "Lebendiges und witziges Kinder- und Familientheater 2015" vor. Doch erst von Anfang an.

Prolog: Eigentlich wollte ich mit meinem Neffen zu dieser Vorstellung. Er ist bekennender Nachwuchsfeuerwehrmann.  "Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt" von Hannes Hüttner ist seine bevorzugte Fachliteratur. Doch dann habe ich doch für den härtesten aller Kritiker als Begleitung entschieden.

Der Einsatz bei Omas Eierschecke
läuft. Alle Fotos: Anja D. Wagner 
Die Vorlage gehört in Ostdeutschland seit mehr als 40 Jahren zu den Monumenten der Kinderliteratur. Eine Adaption für die Bühne ist mit hohen Risiko behaftet, weil das Publikum die Bilder von Gerhard Lahr mit in die Vorstellung bringt. Um nicht in diese Nacherzählungsfalle zu tappen, war die Entscheidung von Patrick Jech und Bianca Sue Henne, die Geschichte komplett neu zu erzählen, konsequent. Gelohnt hat sich die Entscheidung allemal. Seit der Erstauflage von "Bei der Feuerwehr wird der Kaffe kalt" sind immerhin 46 Jahre ins Land gegangen, als muss man die Geschichten eben anders erzählen. Schließlich sind wir bei einem lebendigen Theater und nicht im historischen Seminar.

Die Vorstellung beginnt in völliger Finsternis. Eine Kaffeemaschine röchelt. Zu den Klängen des "Also sprach Zarathustra" taucht Jech in Uniform und behelmt auf. Er imitiert die Posen der Bodybuilder, der Starken. Die Kinder und ihr Begleitpersonal haben die Show schnell durchschaut. Es steckt jede Menge Ironie in dieser Inszenierung. Manchmal erkennen die Kinder dieses Stilmittel, ihren Eltern springt sie jedes Mal ins Auge. Das ist einer der Gründe, warum diese Aufführung so lebendig ist, so erfrischend wirkt.

Damit ist sie Familientheater im besten Sinne. Es gibt eine Lesart für die Kleinen und es gibt eine Lesart für die Großen. Die haben vor allem ihre Freude am Umgang mit den Versatzstücken der Popkultur. Das ist unübersehbar, als Jech im Stile eines Rockstars mit dem geteilten Publikum den Tatü -Tata-Chor übt.

"Das fand ich toll, dass der Jech das Publikum einbezogen hat", wird der härteste aller Kritiker auf der Heimfahrt altklug und haarscharf analysieren. Ja, das ist toll und das kann der Jech wie kaum ein anderer seiner Zunft. Dabei ist es doch so wichtig, wenn man Theater für Kinder macht. Es muss Theater mit Kindern sein.

Patrick Jech spielt den Brandschutzbeauftragten der Stadt Nordhausen. Er erläutert die vier Arbeitsbereiche der Feuerwehr, Retten, Löschen, Bergen, Schützen. Er simuliert eine Schulung, wirft Overhead-Folien auf die Papierwand, übt die fünf Ws einer Notfallmeldung. Er ist gewissenhaft und ein wenig übereifrig. Die Kinder sind mit ganzen Herzen dabei. Die Erwachsenen schmunzeln, denn dieser Typus wirkt so lebensnah.

Doch dann klingelt das Telefon und der Ernstfall droht. Die Inszenierung nimmt an Fahrt auf. Doch vorher gibt es noch den kleinen Bruch. Man soll schon merken, dass der Theoretiker Brandschutzbeauftragter so seine Probleme mit der Praxis der Brandbekämpfung hat.

Patrick Jech und seine Puppen.
Die Inszenierung nimmt an Fahrt auf und sie schmiegt sich an die Vorlage an. Aber vorher gibt es noch ein schönes popkulturelles Versatzstück. Zu den Klängen einer 70-er Jahre Funk-Nummer zieht der Brandschutzbeauftragte eine Pilotenbrille aus der Tasche, setzt sie auf und zeigt sich nun gewappnet für die Herausforderungen der Praxis.

Nun kommen die Puppen zum Einsatz und die Einsätze, die sie bewältigen müssen, sind aus dem Buch bekannt. Bei Oma Eierschecke brennt es, weil sie vergessen hat, den Backofen auszumachen. Emil Zahnlücke ist im Eis eingebrochen, weil er seinen Mut unter Beweis stellen wollte und im Tierpark hat der Sturm einen Baum auf das Dach des Futterlagers geworfen.

Die Art und Weise, wie Patrick Jech erzählt, ist einmalig. Seine Puppen sind Puppen, keine Handpuppen oder Stabfiguren. Es sind Puppen, wie sie in vielen Kinderzimmer vorkommen, und er spielt sie, wie Kinder mit Puppen eben spielen. Keine große Raffinesse, sondern Kopf in die Hand genommen, ein wenig damit gewackelt, hier spielt die Musik und dann spricht er den Text der aktiven Figur. So einfach ist das eben und so kindgerecht ist es. Er will gar nicht die Illusion erzeugen, als seien die Figuren lebendig. Die Lebendigkeit entsteht im Kopf des Publikums.

Auch die Bühne wirkt improvisiert. Das Feuerwehr besteht aus einem Rollbrett, zwei Getränkekisten und einer Alukiste, das reicht. Es ist noch nicht einmal rot, aber das schadet der kindlichen Fantasie nicht. Ein Miniventilator und eine Playmobil-Figur reichen völlig, um den Hubschrauber-Einsatz zu simulieren. Eine Papierbahn wird zur brüchigen Eisfläche. Der federleichte Umgang mit den Requisiten genügt der kindlichen Fantasie und verzaubert die Eltern.

Eine Papierbahn wirkt zur brüchigen Eisfläche um-
gedeutet. Alle Fotos: Anja D. Wagner 
Patrick Jech spielt schnell wie die Feuerwehr. Das Tempo ist jetzt bald schon atemlos und das gefällt den Kindern. Zwanzig Jahre nach der Erfindung von Spongebob kann man eine Geschichte nicht mehr im Duktus der 60er Jahre erzählen. Das wissen Darsteller Jech und Regisseurin Henne. Die kindlichen Ansprüche haben sich eben geändert und sie gehen darauf ein.

Möglich ist dieses Tempo, weil das schwarzweißfigurentheater die Stilmittel frech mischt und damit die Aufführung lebendig gestaltet. Das Rezept beinhaltet natürlich das Puppenspiel und die bereits erwähnte Ironie, aber auch Improvisationstheater und Slapstick haben ihren Platz darin.

Die Eltern erfreuen sich an dieser Vielfalt, den Kindern ist es egal. Hauptsache, es passt und es macht Spaß.


Epilog: Hiermit schlagen wir, der härteste aller Kritiker und der Theatergänger, Peter Jech und Bianca Sue Henne nicht für die Verdienstmedaille "Lebendiges und witziges Kinder- und Familientheater 2015" vor. Nein, wir fordern sie für diese Inszenierung und für diese Art von Familientheater ein!    




Das Theater Nordhausen
Das schwarzweißfigurentheater

Der Autor Hannes Hüttner
Der Zeichner Gerhard Lahr


Der härteste aller Kritiker - Teil eins
Der härteste aller Kritiker - Teil zwei
Der härteste aller Kritiker - Teil drei
Der härteste aller Kritiker - Teil vier
Der härteste aller Kritiker - Teil fünf
Der härteste aller Kritiker - Teil sechs
Der härteste aller Kritiker - Teil sieben
Der härteste aller Kritiker - Teil acht
Der härteste aller Kritiker - Teil neun

Da capo, da capo

Die Chursächsische Kapelle beschert dem Südharz einen italienischen Abend

"Tutto bene",  so einfach kann man das Konzert der Chur Sächsischen Staatskapelle am 4. Juli im Kloster Walkenried beschreiben. Es hat einfach alles gepasst bei dieser Mischung aus Kultur, Kulinarik und Klatsch.

"Wir haben ein Experiment gewagt", kommentierte Thomas Krause die für Walkenried neue Veranstaltungsform Wandelkonzert. Neben den ungewöhnlichen Aufführungsformen war italienische Barockmusik der höchsten Genussstufe die zweite Zutat zu diesem gelungenen Abend. Das Experiment ist durchweg gelungen und darf gern wiederholt werden.

Was auf den ersten und zweiten Blick wie eine Neuerung aussieht, ist im Grunde genommen nur die Rückkehr zu einer Aufführungspraxis wie sie üblich war, bevor die späte Klassik und die frühe Romantik die Musik auf einen sehr hohen Sockel gestellt haben. Damit war der italienische Abend im Kloster Walkenried eher die Rückkehr zu den barocken Freuden. Für Esoteriker mag die Einheit von Musik und Speisen ein italienische Yin Yang sein, für unbeschwerte Zeitgenossen ist es einfach Genuss mit allen Sinnen.

Voigt und die Viola da spalla legen  die Basis für den hellen Streicherklang. Alle Fotos: tok
Der Auftakt ist Barock in klassischer Praxis. Die Chursächsische Kapelle intoniert auf der Bühne im doppelten Kreuzgang Antonio Vivaldi und Francesco Manfredini. Schon mit den ersten Klängen schwang die Leichtigkeit Vivaldi durch das Kloster. Anne Schumann, Dorothea Vogel und die anderen Mitglieder des Ensembles beherrschen diesen hellen Streicherklang, der so typisch ist für Werke des Venezianers. Im Allegro des Concerto für 2 Violinen, 2 Violoncelli, Streicher und Basso continuo ist das Spiel lebendig und agil. Die Basis legen Klaus Bundies und Klaus Voigt mit der Viola da Spalla. Dieses Instrument ist im Grunde genommen die Miniaturausgabe des Cello und es war fast vergessen.

"Früher war der Zoo viel größer als man denkt", kommentiert Klaus Voigt später. Der Streicher aus Sondershausen hat es sich schon vor mehr als 20 Jahren zur Aufgabe gemacht, die Werke des Barocks in ihrer ursprüngliche Form zu bringen. Dies ist auch ein Anspruch der Chursächsischen Kapelle. Auch aus diesem Blickwinkel ist der Aufbruch zu neuen Ufern ein Schritt zurück zu den Wurzeln.

Was eben im Allegro noch so hell und sommerlich war, klingt nun im Largo weich und rund. Das Ensemble aus leipzig beherrscht den nathlosen Übergang.

Das stellt es vor allem in Vivaldis Opus 3 Nr. 9 unter Beweis. Die schnellen Wechsel zwischen Anne Schumann und Dorothea Vogel an den Soloinstrumenten und dem Tutti funktionieren mit einer bewunderswerten Präzision. Im Larghetto darf dann Frank Pschichholz an der Barockgitarre die Wechsel Solo und Tutti bestimmen. Die Passagen erinnern auch im zweiten Allegro an die Entwicklung der Melodie in Vivaldis Meisterwerk "Quattro stagioni".

Dorothea Vogler und Anne Schumann
warfen sich musikalische Bälle zu.
Auch das Zusammenspiel der Solo-Geigen im Manfredinis Concerto grosso hat eine selten gehörte Qualität. Anne Schumann und Dorothea Vogel werfen sich musikalische Bälle zu, nehmen Themen auf, entwickeln sie und übergeben sie wieder. Im abschließenden Allegro darf das Ensemble noch einmal seine gesamte Dynamik ausspielen.

Nach dreißig Minuten hebt das Ensemble die starre Sitzordnung auf und es geht zum Essen. Aber es geht nicht nur zum Essen. Es geht auch Richtung Kommunikation. Mit Getränken und Speisen versorgt können die Gäste dort Platz nehmen, wo sie wollen und mit den Nachbarn das Gespräch über das Gehörte und das Kommende eröffnen. Eine im Barock nicht nur an den Höfen übliche Rezeptionsmethode.

Währenddessen spielt das Ensemble an mehreren Stationen in kleinen Gruppierungen. Klaus Bundies und zwei Kolleginnen spielen im Badehaus. Dorothea Vogler und Anne Schumann eröffnen ihre Wechselspiele in der Abtskapelle. Auch im Kreuzgarten erklingt Musik.

Die Musik, die an allen Orten erklingt, ist selten auf einem Konzert zu hören. Es sind meist Tänze aus dem Italien des 17. und 18. Jahrhunderts, Volksmusik eben. Damit zeigt die Chursächsische Kapelle, dass die Grenzziehung zwischen Hochkultur und musikalischer Basis im italienischen Barock nicht so streng, nicht so strikt war.

Mit dem Wandelkonzert  verändert sich auch die Rolle des Publikums. Der Zuhörer wird zum Gestalter seines Programms. In der nun aktiven Rolle bestimmt jeder, was er hören will und wie lange. Und dies Form bietet jede Menge Ansätze zur Kommunikation zwischen Künstler und Publikum, zum Austausch und zum Erklären. Die Musiker sind von dem hohen Sockel, auf das sie die Klassik und Romantik einst stellte, hinab gestiegen.

Mit dem italienischen Abend ist der Chursächsischen Kapelle und den Kreuzgangkonzerten ein Rückgriff auf eine authentische Aufführungsform gelungen, die belebend wirkt. Zum Abschluss bleibt die Aufforderung "Da capo, da capo."  




Die Kreuzgangkonzerte

Die Chursächsische Kapelle






Samstag, 4. Juli 2015

Keinen Freispruch für den Verräter

Gunter Heun macht im Kloster Brunshausen den Judas


Seit 2012 gehört Gunter Heun zu den prägenden Darstellern der Domfestspiele. Mit seinem Solo in "Judas" unterstrich er bei der Premiere am Freitag im Rosenhof diesen Anspruch eindrucksvoll und eindringlich. Mit ihrer Sicht auf Lot Vekemans Werk haben Christian Doll und Florian Götz eine berührende Inszenierung vorgelegt. Sie haben eine Figur begreifbar gemacht, die seit Jahrtausenden unter einen Vorurteil verborgen war.

Die Tür öffnet sich und für das Publikum geht es in die Tiefe. Ist der Gang in den Theaterkeller nun der Weg in die Hölle oder führt er nur in eine Krypta. Auf jeden Fall verlangt dieses Stück nach einem Raum, der kein Ausweichen erlaubt.

Gunter Heun macht im Kloster den
Judas. Alle Fotos: GDF 
Die 50 Zuschauer sitzen sich in zwei langen Reihen gegenüber. Das erinnert an das britische Parlament als Redearena. Aber es erinnert auch an die Grand Jury aus den klassischen amerikanischen Gerichtsfilmen. Assoziationen mit „Wer die Nachtigall stört“ und Gregory Peck werden geweckt. Soll hier heute Abend über eine Person gerichtet werden, deren Urteil seit Jahrtausenden feststeht: Ewige Verdammnis.

Immerhin geht es um Judas Ischariot, den Verräter Jesu Christi. Walter Jens setzte 1975 einen Rehabilitierungsprozess in Gang, an dessen Ende die Tat als Teil des göttlichen Plans dasteht. Ohne Judas kein Verrat, ohne Verrat keine Kreuzigung, ohne Kreuzigung keine Erlösung, lautet die Gleichung mit zwei Bekannten.

Lot Vekeman geht weiter. In ihrem Monolog für einen Schauspieler geht es nicht um die Vorhersehung. Es geht um die Person Judas Ischariot. Der Verräter wird von der Tat gelöst, er bekommt ein Gesicht, eine Biografie und zum Schluss eine Identität.

Dem Vorverurteilten eine Stimme geben. Welches Mitglied des Gandersheimer Ensembles könnte diese schwierige Aufgabe besser umsetzten als Gunter Heun. An diesem Premierenabend zumindest keins.

Die Rolle lebt vom gesprochenen Wort und das kann Gunter Heun in vielfältiger Weise einsetzen. Mal leise, mit Pause, mal laut und temporeich aber immer pronounciert. Im Werk von Lot Vekemans kommt es auf jede Silbe an, oft geht es um die tiefere Bedeutung der Vokabeln und um Doppeldeutigkeiten. Dieses Spiel mit der Sprachen beherrscht der Vortragende an diesem Abend. Doch das entscheidende Wort, der verbotene Namen, der fällt zuerst nicht.

Doch es ist kein Vortrag, Darsteller und Werk werden gleich am Anfang eins. Im direkten Dialog mit dem Publikum bleibt kalkuliert unklar, ob nun gerade Heun oder Judas spricht, als er über den geprellten Eintrittspreis und das schlechte Gewissen sinniert. Sind Heuns Krücken nun echte Gehhilfen oder nur ein theatralisches Attribut? So richtig klar wird dies nie, aber das tut der Aufführung keinen Abbruch.

Auf dieser Studiobühne ohne Rampe treffen sich Publikum und Darsteller mehrfach auf Augenhöhe. Der direkte Kontakt ist immer da und das macht dieses Spiel so intensiv. Wegschauen ist nicht möglich. Weder können sich die Besucher in die Zuschauerrolle zurückziehen, noch bleibt dem Dartsteller die Flucht in die Tiefe des Raums. Das macht dieses Werk und seine Inszenierung so eindrucksvoll. Niemand bleibt unberührt. Publikum und Schauspieler treten in Wechselwirkung.

Judas ist verzweifelt.
Angekündigt wurde das Stück als Monolog für einen Schauspieler. Aber vielleicht trifft die Bezeichnung Dialog mit dem Publikum die Gandersheimer Inszenierung besser. Heun klärt zuerst die Erwartungen des Publikums, denn Erwartungen spielen eine große Rolle in diesem Stück. Auch das Verhältnis von Jseus und Judas war von Erwartungen geprägt, die nicht erfüllt wurden.

Er will sich nicht verteidigen, er will erklären, betont Judas zu Beginn. Er erzählt nicht die bekannte Geschichte, er erzählt seine Lebensgeschichte. Judas berichtet von den Problemen in seiner Familie. Die Sprache ist klar und analytisch, nur der Bewegungsdrang und die Mimik des Darstellers lassen die kalte Wut erahnen, die zu den bestimmenden Momenten im Leben des Judas Ischariot gehörte.

Im Laufe der Aufführung verwandelt sich diese kalte Wut in Verzweiflung. Der Wandel ist von langer Hand vorbereitet und Gunter Heun setzt ihn in beeindruckender Weise um. Der Bewegungsdrang wird zum Erklärungsdrang und der Darsteller kommt auch mal zur Ruhe. Die kurzen Pausen machen das gesprochene Wort umso eindringlicher. Die Pausen dienen der Akzentuierung, nicht dem Luft holen.

Es gilt das gesprochene Wort, ist Motto des Abend. Dennoch bleiben einige Bilder in Erinnerung. Zweimal stilisiert Heun den Gekreuzigten. In der Vekeman'schen Logik war der Freitod Judas unausweichlich. Handeln war Folgen und einer muss die Verantwortung übernehmen, ist das Credo des Ischariots. Weil die Anderen dazu unfähig waren, musste er es tun. Somit starb er für ihre Sühnden.

Letztendlich ist auch Judas ein Gekreuzigter.
Das zweite starke Bild ist der hockende Judas, der seine Wut in den Boden prügelt. Gerade hatte er erkannt, dass sein Verhältnis zu Jesus scheitern musste, weil sie von unterschiedlichen Voraussetzungen ausgingen, die gegenseitigen Erwartungen und die Ziele nicht deckungsgleich waren.

Je mehr er erzählt, desto mehr ändert sich auch die Rollenzuweiung. Vom Verteidiger in eigener Sache wird Judas zum Ankläger. Er spricht über die Bigotterie der anderen und deren Unfähigkeit zum Handeln. In Othello zeigte Heun unter der Regie von Christian Doll 2013 den minutiösen Verfall eines Helden. Hier kehren die Beiden den Verlauf um. Zwar wird der Anti-Sympath Judas nicht zum Everbody's Darling, aber er wird verständlich. Die Titelfigur wird Stück für Stück aufgebaut . Diese Inszenierung eröffnet dem Publikum eine andere Sicht auf die Dinge, so, wie sie hätten auch sein können. Das ist vielleicht einer der Momente, an denen sich das Leben spaltet.

Für die Titelfigur hat diese Weggabelung ein gutes Ende. Sie ist am Ende in der Lage, den eigenen verfemten Namen endlich laut und deutlich und mit einer Spur Stolz auszusprechen: Judas. Am Anfang war das Wort und alles bekam einen Namen. Somit ist „Judas“ nicht nur ein Name. Es ist die Genese eines Menschen, der wirklich gelebt hat. Aber einen Freispruch gibt es für den Verräter am Ende doch nicht. Das war auch nicht das Ziel.



Die Domfestspiele 2015
Judas - das Stück

Die Seite mit Gunter Heun
Der Regisseur Christian Doll
Dramaturg Florian Götz

Kritik zur Aufführung 2016