Freitag, 30. Mai 2014

Hallelujah und Herrschaftszeiten

Das Oratorium "Joshua" eröffnet die Händel Festspiele 2014 musikalisch

Besser hätte der Auftakt kaum sein können. Bei Händels Oratorium "Joshua" stimmte alles und am Ende von zweieinhalb Stunden Eröffnungskonzerte  zu den Festpielen 2014 übergoß das Publikum in der ausverkauften Stadthalle Göttingen das Orchester, den Chor des NDR und die fünf Solisten mit Beifall. Alle zusammen hatten ein schlüssiges Konzept und eine überzeugende Darbietung abgeliefert.
Der Titel des Oratoriums müsste eigentlich Georg heißen. Hinter der biblischen Geschichte von der Eroberung Kanaans durch die Israeliten hat Händel Lobeshymnen auf König Georg II. Versteckt, Dieser hatte 1746 im britischen Bürgerkrieg das letzte Aufbäumen der katholischen Stuarts niedergeschlagen. Doch die recht kriegerische Geschichte kommt ohne Aggression aus und rückt den inneren Frieden als Ergebnis langer Auseinandersetzung in den Fokus.
Der harmonische Klangkörper FOG braucht nur
wenig Anleitung durch Cummings. Foto:Säckl
Mit seinem Werk Nummer 64 sprengte Händel die Grenzen des Oratoriums. Er ließ Merkmale der Opera Seria und der Pastorale einfließen, etwa in der Erscheinung des Engels im ersten Akt oder der Accompagnato Othniel, das von Achsah erwidert wird und sich zumDuett steigert.
Doch die Basis diese Oratoriums ist ein Drei-Säulen-Model, denn der Chor bekommt in diesen Werk eine Gewichtung und Präsenz, die weit über ähnliche Stücke hinausgeht. Bereits nach der knappen einsätzigen Introduzione preist das Ensemble mit „Ye sons of Israel“ die Eroberung des gelobten Lands durch den Heerführer Joshua. Der Chor ist als Hauptperson gleichwertiger Partner des Titelhelden. Alle zentralen Ereignisse werden durch den Chor eingeleitet.
Doch nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts verbietet sich die unreflektierte Lobpreisung kriegerischer Handlungen. Folgerichtig hält sich der NDR Chor anfangs zurück, hält das Volumen begrenzt und verschwindet hinter der Klangmauer des Festspielorchester, was auch der Akjustik der Göttinger Stadthalle geschuldet sein mag. Die Eroberung Kanaans ist für die Israeliten nach 40 Jahren Wanderung durch die Wüste eine Form des Friedens. Die Zurückhaltung legen die Sängerinnen und Sänger sukzessive ab, als sich die Ereignisse am Ende des ersten Akts auf ihren ersten Höhepunkt zulaufen. Als am Beginn des zweiten Aktes die Mauern von Jericho zum Einsturz gebracht werden müssen, da zeigt der Chor unüberhörbare Präsenz. Er tritt in den Wechselgesang mit dem Herrscher Joshua, das Volk wird zum Partner. Dies ist nur ein Teil des schlüssigen Konzepts dieser Aufführung.
Das FOG zählt zu Recht zu einen der besten
Ensembles in Sachen alte Musik. Foto: Säckl
Die andere Säule ist das Festspielorchester FOG. Zu welchen Leistungen selbst ein Teilzeitklangkörper möglich, stellte das Ensemble am Donnerstag wieder eindrucksvoll unter Beweis. Jahr für Jahr reift hier innerhalb weniger Wochen ein organisches Verständnis von Musik heran. Fast scheint es, dass die Virtuosen in ihrem Zusammenspiel nur gelegentlich die Anleitung von Laurence Cummings benötigt, der sich ihn seiner Funktion als Dirigent an diesem Abend angenehm zurückhaltend zeigt.
Glanzpunkte dieses blinden Verständnisses unter Gleichgesinnten und Gleichwertigen liefern Elisabeth Blumenstock an der Violine und Phoebe Carrai am Cello beim Duett im Wechselspiel der Streicher in der zweiten Szene des ersten Akts. Als Trio mit Kate Clark an der Querflöte verzaubern sie das Publikum in der dritten Szene gleich noch einmal.
Es sind eben die weichen Streicher, die den Abend bestimmen und damit der Kriegserzählung eine lyrische Note geben, dem aggressiv-militärischen Treiben die Spitze nehmen. Auch die Bläser unterwerfen sich dieser Auslegung, als die Mauern von Jericho gefallen sind und die neuen Herren in die Stadt einziehen. Es sind starke Bläser in der siebten Szene des zweiten Akts, die sich und den Besiegten aber den Triumph ersparen.
Doch die Grundlage des erfolgreichen Abends ist das rebibungslose Zusammenwirken von Orchester und Chor. Beide Teile behaupten ihre Plätze, ergänzen einander und nehmen dem Partner nichts weg. Robert Blank und Laurence Cummings sind in der Einstudierung dieser beiden Teile Wunderdinge gelungen.
Auch Kenneth Traver fügt sich in das Konzept der anfänglichen Zurückhaltung und der langsamen Steigerung von Dramatik und Dynamik ein. Erst in der zweiten Szene lässt er erahnen, wie groß sein Potential und wo seine Stärken liegen. Das ist ein eindeutig die präzise Intonation und die klare Artikulation. Erst im Wechselgesang mit dem Chor am Beginn des zweiten Akts zeigt der amerikanische Belcanto-Spezialist sein Dynamik und sein Volumen.
In der Rolle des Othniel kann Renata Pokupic ihre komplette Ausdrucksstärke zur Geltung bringen. Wie das Accampagnato mit Achsah in der dritten Szene des ersten Akts zeigt, kann die Mezzo-Sopranistin auch die lyrischen Seiten wirken lassen, um sie in den Arien des ersten Akts auch in ätherische Höhen zu schwingen.
Anna Dennis betont an diesem Abend als Achsah nicht ihre eranerkannte heiter-empfindsame Präsenz. Es sind eher die nachdenklichen, die zurückhaltenden Seiten der Rolle, die Anna Dennis hier intoniert.

Mit der zurückhaltenden Interpretation des Joshua sind Laurence Cummings, dem Festspielorchester und dem NDR Chor eine Aufführung gelungen, die sowohl Händel in authentischer Weise weiterführt als auch die Tradition und die Erfahrung in Einklang bringt.


Joshua: der Inhalt



Sonntag, 18. Mai 2014

Du Narr, wärst du doch bei deinen Leisten geblieben

Theater Nordhausen zeigt einen Rigoletto, bei dem alles stimmt

Am Ende bekommt er die Höchststrafe. Rigoletto, der Narr, der sich mit den Mächtigen angelegt hat, fällt tief, verliert seine Tochter und muss dennoch weiterleben. Bis es soweit ist, zeigt die Operkompanie des Theater Nordhausen bei der Premiere eine Inszenierung, an der alles stimmig und nichts zuviel ist. Kürzer gesagt: Katharina Thoma ist eine ganz große Oper gelungen.
Grundlage dieser überragenden Leistung ist das Loh-Orchester unter Markus Frank. In der Ouvertüre zeigt das Orchester, dass es die vielen Tonarten des Unglücks meisterhaft beherrscht. Die Bläser flüstern erst und blähen sich dann auf, die Streicher brummen drohend, wachsen an und begleitet von den Pauken finden sich alle im Crescendo zusammen, um am Ende einen zerquetschten Rigoletto zu hinterlassen. Denn das Bühnengeschehen beginnt in Nordhausen noch vor dem ersten Akt. Auf der abgedunkelten Bühne irrt der Narr  im Gegenlicht zwischen zwei Treppenrampen umher, die ihn am Ende der Ouvertüre zermahlen werden. Das Vorspiel erklärt in expressionistischer Weise den Verlauf des Musiktheaters. Aber das Zusammenspiel zwischen Bühnen und Orchestergraben verlangt nicht nur Ausdrucksstärke,sonder auch Präzision und gegenseitige Anerkennung. Der Klangkörper ist an diesem Abend der kongeniale Partner großartiger Solisten. Nie drängt sich das Orchester in den Vordergrund, nie versteckt es sich.

Rigoletto glaubt sich auf einer Stufe mit
dem Herzog. Alle Fotos: Tilmann  Graner
Der erste Akt kontrastiert zur düsteren Ouvertüre. Hell und farbenfroh vergnügt sich die Festgesellschaft am Hofe des Herzog von Mantua. Die beiden Treppenrampen wurden zur den Rängen eines Amphitheaters umrangiert. in dem die Höfling ihrem Herrscher gleich  eine Brot-und-Spiele-Komödie liefern werden. Die beiden Treppenkörper prägen das Bühnenbild, sie ermöglichen Aufstieg und Abstieg und dienen auch als Barrieren.  Julia Müller ist eine Ausstattung gelungen, die mit ihrer Symbolik die Aussage des Werks unterstützt, die Ambivalenz im Verhältnis von Herrscher und Beherrschten, von Vater und Tochter, verdeutlicht. Das vor allem erlaubt das Bühnenbild mit seiner Reduktion die Konzentration auf die Akteure und auf das Geschehen. Hier ist nichts schmückendes Beiwerk, alles trägt zum gemeinsamen Ergebnis bei.
Plakativ sind die Kostüme von Barbara Häusl. Sie verzichtet auf jeglichen Historizismus und siedelt die Bekleidung irgendwo im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert an. Schließlich wollte Verdi seine Oper und das zu Grunde liegende Drama "Le roi s'amuse" von Victor Hugo durchaus als Beschreibung der Gegenwart verstehen und wich nur aus politische Gründen in das Mittelalter zurück. Die Form- und Farbgebung ist eindeutig. Rigoletto in düsteren Schwarz, die Höfling schwarz-weiß in biedermeierlichen Frack, die Hofdamen aufgebretzelt in bunten Reifröcken des Rokoko. Der Herzog von Mantua als eitler Hahn in knallrot oder auch in blutrot.
Der Herzog amüsiert sich zwischen all den
Damen und auf Kosten seiner Höflinge. 
In italieniescher Tradition lebt Verdis Oper von den ariosen Rezitativen, die in dramatische Szenen eingebettet sind, ein scheinbarer Widerspruch, der in der Nordhäuser Inszenierung bestens aufgelöst wird. Raffaele d'Ascanio als Herzog von Mantua ist diesen Anforderungen mehr als gewachsen. Schon im "Questa o quella" entblättert es ein erstaunliches Vermögen. Sein Stimmfarbe scheint für diese changierende Rolle wie geschaffen und man kann ihn durchaus als Entdeckung des Abends bezeichnen. Er präsentiert die Verzweiflung im "Parmi veder le lagrime" genauso überzeugend wie die Leichtigkeit des "Ladonna é mobile". Der Tenor und Spezialist für die Belcanto-Rollen erfüllt die hohen Erwartungen damit mehr als zu Genüge.
Rigoletto war der Einbruch der Realität in die italienische Romantik. Verdis löste hier die alten Gleichungen schön = gut = wahr und häßlich = böse = verlogen auf. Im Kampf zwischen der kleinbürgerlichen Moral und der Amoralität das Adels machte er den Entstellten zum Helden auf verlorenen Posten. Mit Rigoletto gelang ihm der widersprüchliste und menschlichste Protagonist seiner Werke. Denn die Inszenierung in Nordhausen macht klar, dass auch der Narr nicht nur ein Opfer ist. Er verhöhnt den trauernden Vater, den Graf von Monterone, verbündet sich mit seinem Herzog gegen die Höflinge und schmiedet Mordpläne, denen letztendlich die eigene Tochter zum Opfer fällt.
Das ist nicht das einzige Duett,
das in guter Erinnerung bleibt
Kai Günter scheint ein Abonnement auf die dunklen Rollen zu haben. Im letzten Jahr war der Bariton als fliegender Holländer bei den Schlossfestpielen in Sondershausen zu sehen. Bei der Rigoletto-Premiere in Nordhausen setzte er auf die guten Erinnerungen ein noch stärkere Präsenz drauf.  In Nordhausen entwickelt er Rigoletto als einen Kleinbürger, der hinter seiner Fassade als Possenreißer verletzlich ist, seinen vermeintlichen Schatz mit Kontrollwahn vor der Welt verstecken will, falsch interpretiert wird und mit seinem Streben nach Glück scheitern muss, weil er nicht erkennen kann, dass er sich mit den falschen Mitteln mit den falschen Leuten anlegt.
Nicht zuletzt im "Cotigiani, vil razza damnata" im zweiten Akt, als er seine Tochter aus den Klauen der Entführer befreien möchte, zeigt er die ganze Palette seiner Ausdruckskraft. Klarheit trifft hier auf Dynamik. Doch gegen die Gruppe bleibt der Einzelne machtlos.
Mit Elena Puszta als Gilda hat Kai Günther eine kongeniale Partnerin gefunden. Das Duett "Figlia! Mio padre!" im ersten Akt ist sicherlich ein Glanzlicht in dieser an Höhepunkten reichen Aufführung. Günther bildet die Grundlage, auf der die Sopranistin sich mit engelsgleichen Tönen in die Höhe schwingen kann. Im Duett "T'amo, t'amo" mit Raffaele d'Ascanio wiederholt sie diese überragende Leistung nicht zum einigen Mal bei dieser Premiere. Auch im Quartett des dritten Aktes, dem "Bella figlia del amroe" ist sie mehr als nur eine Stimme. Sie versteht es, sich hier zu behaupten zwischen den Polen Vater und Herzog. Das kleine, bezopfte Mädchen Gilda ist kurzer Zeit zur selbstbewussten jungen Frau herangereift. Damit bestätigt sie die starken Eindrücke, die die Berlinerin bei ihren bisherigen Auftritten in Nordhausen hinterlassen hat.
Mit Sparafucile hat sich Rigoletto  den
falschen Geschäftspartner ausgesucht.
Gut in Erinnerung bleibt  bei der Premiere auch Florian Kontschak als Sparafucile. Mit Präzision betont die technische, die kühle Seite seines Mörderhandwerks. Menschen vom Leben in den Tod befördert ist ein Job wie jeder andere und es spielt keine Rolle, wer das Opfer ist. Anja Daniela Wagner muss sich als dessen Schwester Maddalena anfangs in ihre Rolle hineinfinden. Doch ihr Duett mit d'Ascanio ist geballtes Begehren, ist purer Sex, das lässt sich nicht anders sagen.
Mit dieser Aufführung treffen Katharina Thoma und ihre Ensemble den Kern der Oper. In kurzen szenischen Blöcken wird die komplette dramatische und psychologische Entwicklung von drei Personen in ihrer gesamten Komplexität erfasst. Orchester, Sänger, Bühnenbild und Kostüme fügen sich zu einer Gesamtaussage, die nicht im Historizismus stecken bleibt. Auch in Zeiten sexueller Freizügigkeit bleibt die Frage nach Moralität erhalten. Sie verschiebt sich in andere Bereiche und akzentuiert das menschliche Miteinander stärker. Gleiches gilt für das Konfliktfeld Adoleszenz, kindliche Loslösung und elterliche Kontrolle. In dieser Inszenierung ist Rigoletto auch 163 Jahre nach seiner Uraufführung ein Werk mit Zeitbezug.


Das Theater Nordhausen
Das Werk in der Selbstdarstellung
Nächste Aufführungen: 23. Mai, 7. Juni




Sonntag, 11. Mai 2014

Eine flog über's Kuckucksnest, fast jedenfalls

TfN-MusicalCompany wagt sich an "Fast normal"


Hingehen, anschauen und zuhören und zwar unbedingt. Dieses Stück ist hinreißend, atemberaubend, rührt das Herz und geht an die Nieren. Craig Simmons hat "Fast normal" von Tom Kitt und Brian Yorkey als rasante Achterbahnfahrt durch die Höhen und Tiefen und durch die manischen und depressiven Phasen einer bipolaren Störung inszeniert. Das Kammermusical verzichtet auf eine große Besetzung und große Szenen, sondern überzeugt mit Charakterstudien und eindringlichen Szenen. Am Schluss bleibt die Katastrophe aus, ein Happy End gibt es auch nicht, aber die Hoffnung bleibt.

Alle zusammen singen das Loblied auf die
Psychopharmaka. Fotos: TfN/Hartmann
"Fast normal" ist der Kammerspiel unter den Musicals und kommt mit sechs Sängerinnen und Sängern aus. Das macht das Stück und die Geschichte, die es erzählt, aber auch so eindringlich und intensiv und ist im Gegenzug auch ein Herausforderung für die Akteure. Hier gibt es keine Massenszenen, in den man sich  verstecken könnte. Permanente Präsenz ist gefordert. Der Erfolg der Hildesheimer Inszenierung ist auch im Ensemble begründet. Es gibt keine Rolle, die abfällt. Caroline Kiesewetter lootet als Diana Goodman alle Höhe und Tiefen der Hausfrau und Mutter mit psychischen Problemen aus. Die  pure Verzweifelung und die Angst vor sich selbst kommen genauso gut zur Geltung wie die Euphorie der manischen Phasen und der Trotz der beginnenden Krisen. Alexander Prosek ist besonders dann stark, wenn die Hilflosigkeit und Schwäche von Dan Goodman nicht zu übersehen ist.
Caroline Zins überzeugt als Natalie Goodman, die auf die Lieblosigkeit der Mutter und die Hilflosigkeit des Vaters erst Überehrgeiz und anschließend mit Trotz reagiert. Der starke Pol in dieser Inszenierung ist Jonas Hein als Gabe Goodman, als das Phantom des Musicals. Denn Gabe Goodman ist tot. Er starb im Alter von acht Monaten und nur in der Wahnwelt seiner Mutter wurde er zum Teenager.
Das Baby wurde nicht Opfer eines Unfall, es verstarb nicht wegen elterlichen Fehlverhaltens. Es wurde Opfer einer ärztlichen Fehldiagnose, eines sogenannte Kunstfehler.
Wenn ein Kind vor den Eltern stirbt, dann ist nicht nur eine göttliche Ordnung gestört, dann wird auch das Leben der Überlebenden in Unordnung gebracht. Aber nicht die Schuldfrage belastet das Leben der Familie Goodman, sondern die Unfähigkeit mit dem Verlust umzugehen.
Gabe ist das allgegenwärtige
Phantom des Musicals.
 Für Diana ist es ein zweifacher Verlust. Mit der Geburt ihres ersten Kindes verlor sie die jugendliche Unschuld, wurde vom Studenten-Daseins ins Mutterglück gestoßen und anschließend des Lebensinhaltes beraubt. Gabe lebt in ihrer Phantasie weiter und wuchs heran. Auf ihn projiziert Diana ihrer Sehnsüchte, er wird zur Stütze im Alltag und zum Ratgeber. Es entsteht ein fast schon libidinöse Verhältnis, denn der junge Mann  soll der Mutter die  Unbeschwertheit der Jugendtage zurückbringen. Diana Goodman lebt ständig auf der Kante zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt. Mit wenigen Mitteln kippt in der yweiten Syene das Bild von der gany normal vrr[ckten Familie mit Teenagern Zu ihrer Tochter Natalie konnte sie nie ein Beziehung aufbauen.
Und dann ist da die Angst vor den Entscheidungen. So weiter machen geht, das geht nicht. Alle Behandlungen haben nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Das Gespenst der Vergangenheit ist immer noch da. Aber es ist auch die Frag erlaubt: Was ist normal? Wer setzt die Norm? Wer trägt die Erwartungen an die Protagonisten und ans Publikum heran?
Mit Elektokrampftherapie als ultima ratio droht Diana das Schicksal von Randall Patrick McMurphy in "Einer flog über das Kuckucksnest". Doch die Kontrolle über ihr Leben hat sie schon vor langer Zeit verloren. Aber an welchem Punkt eigentlich? All dies liegt im Spiel von Caroline Kiesewetter.
Je länger das Musical dauert, desto mehr wird Natalie zum Gegenpol. Schuldlos als Spätgeborene leidet sie mehr als alle anderen unter der Krankheit der Mutter. Sie hindert den Teenager daran, eine Beziehung zu Gleichaltrigen aufzubauen. Die Aufmerksamkeit der Eltern versucht sie mit schulischen Höchstleistungen zu erzwingen, doch vergebens. Das Leben der Familie Goodman dreht sich um die Mutter und den toten Bruder. Da ist nicht genug Platz und keine Aufmerksamkeit mehr fuer einen pubertierenden Teenager. Da ist niemand der sie an die Hand nimmt bei ihrer Suche nach ihrem Weg in das Leben. Da ist die g;ttliche Ordnun wieder ges;rt und Dan und Diana scheitern als Eltern.
Natalie antwortet mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung. Diesen Hilflosigkeit, aber auch den Trotz und Zorn zeigt Carolin Zins vollständig und in beeindruckender Weise.
Auch diese Therapie zeigt nicht
die gewünschte Wirkung.
Das erst so harmlose Spiel beginnt in einem Bühnenbild, in einer Küche, die auch aus einem IKEA-Katalog stammen könnte. Gedämpftes Licht zeigt eine Welt, die in optische Watte verpackt ist. Doch der harte Schnitt kommt schon nach wenigen Minuten, das Musical beschleunigt von knapp über Null auf 120. Jetzt haben wir es mit einer Familie auf Speed zu tun. Dem hilflosen Schweigen der Akteure folgt eine rasante Folge von Szenen, die bald das Elend in seiner vollen Breite zeigt. In schnellen Bildern erzählt Craig Simmons von enttäuschten Hoffnungen, von Unsicherheiten und Misserfolgen junger Menschen auf ihren Weg, von Therapien, die nicht anschlagen. Die Hatz nach dem eigenen Quentchen Glück lässt keine Zeit zur Reflexion, bis die Einsicht kommt: So geht es nicht weiter. Keine Therapie hilft, wenn der Patient sich nicht helfen lassen will.
Unterstütz wird die atemlose Suche nach Ausweg und Analyse durch das großartige Bühnenbild von Steffen Lebjedzinkski. Die Drehbühne, ständig in Bewegung und in Form einer verdrehten Rampe, erlaubt zum einen den schnellen Wechsel der Szenen und der Ort. Sie ist mal Haus, Praxis oder Schule, mal Hintergrund und mal Podium für das große Solo. Aber sie ist auch eins: Das Hamsterrad. Je mehr sich die Akteure abstrampeln, desto schneller scheint es sich Richtung Abgrund zu drehen. Erst als die Inszenierung nach der Pause in ruhigeres Fahrwasser kommt, dreht sich auch dieses Hamsterrad immer langsamer. So lange, bis  Diana Goodman selbst in sich ruht. Der Flug überdas Kuckucksnest bleibt ihr erspart, aber Besserung gibt es erst, als sie die Verbindungen in die Vergangenheit kappt. Damit ist sie ihrem Gatten zum Schluss den entscheidenden Schritt voraus. Dieser verliert den Vater-Sohn-Konflikt nicht nur, weil sein Widerpart inexistent ist. Zum Schluss ist es Dan, der nicht über den Schatten der Vergangenheit springen kann. Mit dieser Hilflosigkeit bietet Alexander Prosek auch Identifikationsmöglichkeiten. Damit bindet er das Publikum an das Stück.
Neben den Sängern und dem Bühnenbild ist das Licht der achte Akteure. Es taucht einzelne Szenen in optische Watte, es setzt Solisten in Szene, es erhellt, aber es verdunkelt auch. Vieles bleibt unsichtbar. Während der Vordergrund in gleißendes Licht getaucht ist, verschwindet das Bühnenhaus im Dunkel, Licht wird zu purer Symbolik. Damit eröffnet Simmons in seiner Inszenierung eine fünfte Dimension.
Als Schlusschor bleibt eine Referenz an die Mutter als Rock-Musical. Es klingt verdächtig nach "Over at the Frankenstein Place" aus der Rocky Horror Picture Show. Tröstlich zu wissen, das selbst dort immer ein Licht brennt.
Sicherlich kann man vom Besuch eines Musicals genauso wenig therapiert werden, wie man vom Lesen einer Speisekarte satt wird. aber die Empfehlung lautet trotzdem: Hingehen, anschauen und zuhören und zwar unbedingt. Und dann eine eigene Meinung bilden.

Das Theater für Niedersachsen
Das Musical in der Selbstdarstellung
Die Galerie