Mittwoch, 6. Februar 2013

Nur Verlierer im Wortgefecht

Nur Verlierer im Wortgefecht.



Das Junge Theater hat einen Film von Theo von Gogh für die Bühne adaptiert. "Das Interview" war das vorletzte Werk des niederländischen Provokateurs. Darin verarbeitete er sein Erfahrungen in der Welt des Fernsehens und war damit so erfolgreich das es ein Remake gab. Zuvor war dieses Kammerspiel für zwei Verletzte nur in Berlin auf der Bühne zu sehen.

Er heißt Pierre, 45 Jahr alt, Journalist mit Bosnien-Trauma und toter Tochter, und eigentlich zuständig für Innenpolitik. Sie heißt Katja, 25 Jahre jung, Filmstar mit Silikonbrüsten und Liebling des niederländischen Publikums. Beide sollen miteinander reden. Mit dieser schwierigen Ausgangslage beginnt  “Das Interview” und das Junge Theater Göttingen brachte den Film von Theo van Gogh nun auf die Bühne.

Der Kampf der Kulturen ist vorgezeichnet und schnell entspannt sich zwischen den Protagonisten ein Wortgefecht bis auf die Knochen, ausgefochten mit verbalen Skalpelen und  rhetorischen Vorschlaghämmern. Zwar gelingt Pierre der erste Tiefschlag, doch Constanze Passin ist als Katja von der ersten Minuten an mehr Präsenz auf der Bühne als ihr Widerpart Dirk Böther. Quirlig, wortgewandt, offen bis zur Verletzung drängt sie den Kontrahenten verbal in die Defensive. Mit der Achterbahnfahrt von himmelhoch jauchzend über zu Tode betrübt zurück zu den Höhen eines kleinen Triumphs zeigt sie die ganze Palette einer Person, die selbst nicht weiß, wo sie steht. Hyperaktiv lotet sie die Bühne in Breite und Tiefe aus, nutzt sie das einzige Möbel mal als Ruhebank, mal  eigene Bühne. Doch die dunkle Vergangenheit bleibt nur eine Andeutung, die muss man sich dazudenken. Verzweiflung oder Euphorie, das Spiel ist so angelegt, dass nie klar werden darf, was davon nun echt ist und was gespielt bleibt. Findet die Soap auf der Bühne oder nur im Kopf statt? Die bleibt bis zum Schluß bewußt offen gehalten.

“Ein gutes Interview ist seinem Wesen nach ein Gefecht” lautet das Credo des Journalisten, der Filmchensternchen unter seiner Würde findet. Doch aus der Geringschätzungsecke kommt Dirk Böther als Pierre  zu selten, im Kampf bleiben Stimme und Gestik im moll, und Pierre damit in der Defensive. Die stillen Momente und die Traumata eines Kriegsberichterstatters kann er glaubhaft umsetzen, doch die erhoffte Verwandtschaft zweier verletzten Seelen bleibt eine Illusion. Fast zwangsläufig muss Pierre die Friedensangebote machen. Und dann steht Dirk Böther gelegentlich wie ein Trottel da.

Sprache ist die Waffe in diesem Kampf um die Deutungshoheit und die Sprache wandelt ständig von derb zu mitfühlend, von drastisch zu treffend. Sogar der Diskurs auf der Meta-Ebene darf nicht fehlen. Aber weil es ein Kampf zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau ist, dominieren die Verben “Titten”, “Huren”, “ficken” und “blasen”  zumindest den Mittelteil. Dieser Kampf um Worte wird mit scharfen Zungen ausgefochten. Scharfzüngig geht es um die Verletzung des Gegenübers

Das Bühnenbild reduziert sich auf eine Couch als zentraler Gefechtsplatz, das Wort steht im Vordergrund und nicht die Ausstattung. Deshalb hat auch die Requisite Diktiergerät eine zentrale Bedeutung und wird den Kampf am Ende entscheiden. Alles andere darf man sich dazu denken. Der Blick in eine Tiefe bleibt verwehrt.
Das Licht ist schonungslos gesetzt, nichts kann sich verbergen, auf Effekte hat Regisseurin Julia Wissert verzichtet.
“Es gibt nichts zu beschönigen” ist die Botschaft. Die Studio-Atmosphäre im JT macht den Zuschauer zum Zeugen, hier gibt es kein Wegsehen. Das Spiel ist nach 75 Minuten aus und entlässt das Publikum mit der Ahnung, dass dieser Kampf der medialen Kulturen nicht unentschieden ausgegangen ist.
Die nächsten Aufführungen stehen im Jungen Theater am  7., 13., 15., 21. und 28. Februar auf dem Spielplan.

Das Stück im Jungen Theater

Thomas macht jetzt auch in Bücher

Brief an meine Mutter by Georges Simenon
My rating: 5 of 5 stars

In de Rue Pasteur lebte Simenon von
1905 bis 1911. Foto:Flamenc/Wiki.
Simenon schreibt drei Jahre nach ihrem Tod einen offenen Brief an seine Mutter. Ein sehr offener Blick zurück auf ein schwierige Beziehung zwischen einer vom Leben enttäuschten Frau, die nicht aus ihrer Haut heraus kann, und ihrem berühmten Sohn, eine Beziehung voller Missverständnisse, mit dem Blick für Details und Gründe. Das Buch ist gleichzeitig auch eine Analyse über die emotionale Armut im späten 19./ frühen 20. Jahrhundert, die die Protagonisten nicht durchbrechen können. Damit vielleicht ein Schlüssel zum Werk von Simenon. Meist sachlich und nüchtern geschrieben hat es auch liebevolle Moment und der Autor verzichtet auf Häme und Überheblichkeit.
Wer Simenon verstehen will, der muss es gelesen habe: „Meinem Vater fehlte nichts, meiner Mutter fehlte alles. Das war der Unterschied zwischen ihnen“.

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