Freitag, 21. Dezember 2012



Theater, das was zu sagen hat,

Premiere "Am Schwarzen See" am DT Göttingen

Dea Loher gilt als die wichtigste deutschsprachige Dramatikerin der Gegenwart. Am vergangenen Samstag inszenierte Wojtek Klemm ihr aktuelles Stück “Am Schwarzen See” am Deutschen Theater Göttingen.
Der Wellblechvorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf ein Bühnenbild, das keins ist. Ein flaches Podest bis tief ins Bühnenhaus hinein, vier Rattanstühle, ein Schriftzug, das reicht. Schonungslos offen, abgenutzt und roh, der erste Eindruck und der wird bleiben bis zum Schluss.
Vier Schauspieler, die wie freie Neutronen umherirren, ohne Ordnung. Wenn Kinder vor dem Eltern sterben, dann ist die göttliche Ordnung gestört. Wenn Kinder dies freiwillig tun, dann ist auch die menschliche Ordnung zerstört. In Dea Lohers Tragödie “Am Schwarzen See” liegt die Katastrophe bereits hinter den Helden. Nun sind sie zum Weiterleben verdammt. Die  Sisypos-Arbeit Erinnerung ist eine Hölle, aus der es kein Entrinnen gibt, das steht am Ende der  Inszenierung von Wojtek Klemm in Göttingen.
Johnny und Else, Eddy und Cleo, zwei Paare treffen sich nach vier Jahren wieder, um über den Freitod ihrer Kinder zu sprechen. Floskeln, Halbsätze und Anspielungen lassen eine angestaubte Vertrautheit ahnen. Alle reden, doch alle reden aneinander vorbei. Die Bühne ist die nur Rampe, von der die Hinterbliebenen ihren bohrenden Schmerz in die Welt tragen.
Da ist Else, die Mutter von Nina, die nie ganz Teil dieser Welt und immer die Schutzbefohlene ihres Mannes Johnny sein wird. Ein Gesicht wie eine Maske und ein Kleid wie ein Peplos scheint Nadine Nollau einer griechischen Tragödie entsprungen.
Johnny ist der toughe Banker, der Sanierungsspezialist, der seine Familie im Zwei-Jahres-Rhythmus von Ort zu Ort zerrt. Ohne Bindung ist sein Ziel die Metropole, die Schaltzentrale der Finanzwelt und muss doch eingestehen, dass er immer ein kleines Rädchen sein wird. Der Preis war das Leben seiner Tochter. Andreas Jeßing ist das Entsetzen über das eigene Handel ins Gesicht und in die Gestik gemeißelt.
Eddie ist Brauereibesitzer in der dritten Generation und will doch kein Geschäftsmann sein. Nach der Katastrophe glimmt sein Freiheitsdrang nur noch, mit den Reparaturarbeiten am gemeinsamen Leben mit seiner Frau Cleo ist er überfordert. Meinolf Steiner bringt alle Nuancen dieses sehr traurigen Clowns zu Geltung, sein Wanken zwischen Flucht oder Weitermachen. Cleo hält den Laden zusammen. Sie muss die Starke sein und will doch nicht. Aus dieser Rolle kommt sie nicht heraus und die Erwartungen der anderen verhindern ihre Trauerarbeit. Verhärtung ist die Konsequenz.
Früher lebten alle vier einer eigenen Welt aus Geld und Arbeit, Arbeit und Geld. Aus dieser Welt haben sich ihre Kinder freiwillig verabschiedet. Heute lebt jeder für sich allein. Haltlos und permanent in Bewegung, ständig mit sich selbst beschäftigt, fehlt die Zeit für die entscheidende Frage. Das “Warum” schwebt 100 Minuten im Raum und in der letzten Konsequenz darf das Publikum die Antwort selbst finden. die Wahrheiten liegt zwischen den Bruchstücken der Erinnerung. Deshalb ist es die Inszenierung von Klemm eben Theater für Erwachsene.
Dieses Stück ist nicht an Raum und Zeit gebunden. Diese Katastrophe kann überall geschehen und die Frage stellt sich automatisch: “Wass ist, wenn mir so etwas passiert”. Das ist einer der Gründe, warum dieses atemlose Stück niemanden unberührt entlässt. Das ist Theater, das etwas zu sagen hat.

 

Bild: DT